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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold
Autoren: Dieter Buehrig
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überlebt. – Ich bin Aina dankbar dafür, dass sie mich das gelehrt hat. Ich liebe sie, sie und ihre Musik.
    Aina merkte nicht, wie die Zeit verging. Der Aperitif und die betörenden Düfte versetzten sie nahezu in Trance. Dazu kam das Glücksgefühl, so herrlich und ausgiebig musizieren zu dürfen.
    Rana schenkte beiden etwas Litschi nach.
    »Hier, das musst du unbedingt singen: ›Um Mitternacht‹. Tu mir den Gefallen bitte, es ist mein Lieblingslied von Hugo Wolf.«
    Zärtlich strich sie über die Tasten und entfaltete den Sechsachtel-Rhythmus. Mit der weichsten Stimme, die sie zu intonieren vermochte, begann Aina die schlichte Melodie, die wie eine Gegenwelle im Zwölfachtel-Rhythmus sanft über der Klavierbegleitung lag.

     
    »Gelassen stieg die Nacht ans Land,
    Lehnt träumend an der Berge Wand,
    Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
    Der Zeit in gleichen Schalen ruhn.«

     
    Sensibel folgte Aina den Klangfarben, die der Komponist so einmalig kreiert hatte. Das Zusammenspiel der beiden war perfekt.

     
    »Das uralt alte Schlummerlied,
    Sie achtet’s nicht, sie ist es müd.«

     
    Rana schloss die Augen – sie konnte das Stück sowieso auswendig – und nahm den melancholischen Ton in Ainas Stimme tief in sich auf.

     
    »Es singen die Wasser im Schlafe fort vom Tage,
    Vom heute gewesenen Tage.«

     
    Einsam verloren sich die wenigen zarten Akkorde im Kerzenlicht. Der Komponist hatte am Schluss angemerkt: immer leiser – ersterbend.
    Rana schloss behutsam den Flügeldeckel, faltete die Hände im Schoß und blieb mit geschlossenen Augen lange bewegungslos sitzen.
    Auch Aina hatte ihre Augen geschlossen. Sie fühlte sich zutiefst benebelt von den Klängen, den Düften, dem Kerzenlicht.
    Endlich stand Rana auf, ging langsam auf Aina zu, und in einer Anwandlung sinnlicher Zuneigung umarmte sie das junge Mädchen.
    Sie streifte ihr die Bluse von der Schulter und gab ihr einen Kuss auf den Hals. Aina hob in ihrer trunkenen Glückseligkeit die Arme, um ihr tiefschwarzes Haar zu bändigen, das sich während des Abends längst gelöst hatte.
    Infolge dieser Bewegung bemerkte Rana das Muttermal an der Innenseite von Ainas linkem Oberarm.
    Es hatte genau dieselbe Form, wie das Amulett, das sie, an einer goldenen Kette hängend, verborgen unter ihrem Kleid trug!
    Als sei sie von Sinnen, stieß Rana das junge Mädchen mit aller Gewalt von sich und verschwand mit einem unmenschlichen Aufschrei aus dem Zimmer.
    Aina stolperte rückwärts über den Persertisch und riss die Gläser und Kerzen mit sich. Wie besinnungslos blieb sie auf dem Teppich liegen.
    Das Feuer der Kerzen entflammte sofort die seidenen Vorhänge.

     
    *

     
    Was Frau Ampoinimera nicht wusste: Ihr Mann und der Geselle waren schon längst zurückgekehrt und arbeiteten in der Uhrmacherwerkstatt an einer neuen Standuhr.
    Die beiden wollten das Duett nicht stören und hatten sich stillschweigend in ihre Arbeit zurückgezogen.
    Und was weder das Ehepaar Ampoinimera noch Aina wussten: Raik hatte am späten Vormittag Besuch von Frau Cortes bekommen, die ihm alles über Ainas Herkunft berichtet hatte. Seither hatte Raik das Gefühl, als beginne er, die schicksalhaften Zusammenhänge zu durchschauen.
    Verbissen machte er sich an sein Werk.

     

     

Kapitel 26: Raiks Traum

    Die Arbeit an dem neuen humanoiden Uhrenroboter geht nur langsam voran. Das Zusammenspiel zwischen den rotatorischen Achsen stimmt noch nicht mit dem Ablauf des Uhrwerks überein.
    Immer wieder muss er umprogrammiert werden.

    Der Meister läuft unruhig hin und her, zieht ein paar Bücher zurate, berechnet neue Tabellen, ändert die Zahlenwerte im Computerprogramm.

    Radamo sitzt nebenan in der Bibliothek in seinem Sessel.

    Warum verbietet mir der Meister, diesen Raum zu betreten?

    Von oben dringt Musik.
    Aina singt.
    Aina …
    Ich brauche einen neuen Zeigerabheber. So geht das nicht!
    Wenn es doch endlich wieder Frühjahr wäre.
    Das Ziffernblatt verwandelt sich in ein Großsegel.
    Die Segel stehen gut, der Westwind treibt uns beide über die Bucht hinaus.
    Neue Ufer locken.
    Verdammt, wieder rutscht der Zeigerabheber ab!
    Wo ist das Augen-Okular? – In dieser trüben Beleuchtung kann man nichts mehr erkennen.
    Ich muss die Großschot etwas dichter holen.
    Vorn am Bug steht Aina und singt.
    Ihre Haare umspielen das Genuasegel.
    Jetzt ist es im Musikzimmer still.
    Machen sie endlich Schluss?
    Da, ein Schrei, ein Poltern, als falle ein Stuhl um.
    Was ist da los?
    Auch der Meister
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