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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold
Autoren: Dieter Buehrig
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Zentrum der Stadt, sondern auch das kulturelle. In Trost spendender Regelmäßigkeit wird hier zu Ostern die Matthäuspassion, am Totensonntag die h-Moll-Messe und zur Weihnachtszeit passend das gleichnamige Oratorium aufgeführt. Und am Abend des Jahreswechsels strömt ganz Lübeck in die Kirche, um sich den Messias anzuhören. Viele Zuhörer singen selbst mit.
    Nur ein paar kulturell interessierte Bürger beklagen, dass sich das Musikleben der Stadt wenig weiterentwickelt. Neuere Klänge hört man lediglich aus den engen Fenstern der Übungsräume der nahe gelegenen Musikhochschule herausschallen.
    Bevor wir diese erreichen, machen wir noch einen kleinen Abstecher zum Stadttheater und zur Oberschule. Das Theater ist in einem ehemaligen Handelsherrenpalast untergebracht. Es diente zunächst mehr oder weniger als Tummelplatz für durchreisende Theatergruppen. Als aber im Jahre 1794 die ›Zauberflöte‹ auf den Spielplan gesetzt wurde, waren auch die vornehmeren Bürger von Lübeck gewonnen – auch wenn sie nur wenig von dem verwirrenden Märchen verstanden. Spötter behaupten, die ›Zauberflöte‹ erklinge dort noch heute 365 Mal im Jahr.
    Gleich in der Nähe befindet sich ein Theater anderer Art: die Oberschule. Ein achtlos Vorübergehender wird in den alten Gemäuern zunächst ein Kloster vermuten. Was auch gar nicht so abwegig ist, da das Gebäude vor der Säkularisation im 16. Jahrhundert schweigenden Mönchen als Katharinenkloster der inneren Einkehr diente.
    Zwar sind die alten Sprachen, die Naturwissenschaften und die Musik Schwerpunkte des Instituts, wichtiger für unsere Geschichte sind jedoch die hartnäckigen Gerüchte, nach denen geheime unterirdische Gänge, von den ehemaligen Klostergemäuern aus, sowohl westwärts zum Stadttheater als auch südwärts zu den Bürgerhäusern rund um die Musikhochschule bis hin zu den Kanälen am Stadtwall führen sollen. – Aber das basiert wahrscheinlich nur auf den üblichen Schülerfantastereien.
    Doch schreiten wir weiter. Der nächste Tempel der schönsten Muse der Stadt, die Musikhochschule, liegt, der allgemeinen Hierarchie folgend, weiter südlicher, etwas mehr den Hang hinab. Für einen Fremden ist er leicht zu übersehen, vermittelt er auf den ersten Blick nicht unbedingt den Eindruck einer akademischen Einrichtung.
    Im Gegenteil. Die Musikhochschule besteht aus einer Anhäufung von alten Bürgerhäusern, die sich um ein paar enge Gassen gruppieren. Da das Gelände in Richtung Stadtgraben abfällt, scheint es, als müssten sich die rötlichen Backsteinhäuser gegenseitig stützen, wie es die Rentnerehepaare tun, wenn sie einander untergehakt gemächlich durch die Wallanlagen spazieren.
    Beim Ausbau des Konzertsaals der Hochschule fand ein Baggerführer einen mittelalterlichen Geldschatz mit Münzen aus den Jahren um 1533. Jemand hatte ihn aus mysteriösen Gründen unter den Fußbodendielen eines Altstadthauses vergraben. Den Gegenwert schätzte man auf den eines ausgewachsenen Privathauses. Kein schlechter Fund also. Der Bauarbeiter erhielt einen sechsstelligen Finderlohn, der Schatz wurde später dem Land zugeschrieben. Man munkelt, dass irgendwo dort ein weiterer Goldschatz in einer Holzkiste zu entdecken sei.
    Nicht weit vom Haupteingang der Musikhochschule befindet sich ein Marionettenmuseum. Skurrile Puppen, Ritterrüstungen und Holzmarionetten werben im Eingang und im Schaufenster des hübschen und gepflegten Altstadthauses um Besucher. Eine wirklich sehenswerte Sammlung.
    Unter den Lübeckern gibt es allerdings zu wenig Träumer, als dass das kleine Museum ein Publikumsmagnet wäre. Manchmal kommen ein paar Kinder, die versuchen, sich an dem hohen Fenstersims heraufzuziehen, um einen Blick in die geheimnisvolle Welt der mechanischen Fabelwesen werfen zu können. Für einen echten Hanseaten ist das Museum zu kindisch. Der weiß seine Zeit besser zu nutzen, als Spielzeug anzuschauen.
    Nur ein paar Touristen, die von dem Zeitgefühl der Lübecker nichts ahnen, lassen sich gelegentlich von den technischen Wunderwerken anlocken. Gern bestaunen sie die mechanische Präzisionsarbeit und manche von ihnen, die es mit der elterlichen Pädagogik ein wenig übertreiben, rauben anschließend ihren Töchtern und Söhnen jegliche Fantasie, indem sie ihnen jedes Rädchen, jedes Gelenk, jeden Hebel und jedes Gewinde physikalisch genauestens erklären.

     
    *

     
    Auf der Rückseite dieses Hauses, in der Parallelstraße, stoßen Sie auf die merkwürdigste
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