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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold
Autoren: Dieter Buehrig
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teilweise zerfetzter Gesangsbücher ein trostloses Dasein. Weiter oben flatterten aufgescheuchte Vögel durch kleine Mauerritzen davon.
    Endlich kam er auf die Ebene, die sich direkt über dem Kreuzgewölbe befand. Sie bestand aus einem wackligen und staubig-rutschigen Holzgerüst. Das Anbringen von Geländern hatte man sich aus Kostengründen erspart. Von hier aus blickte man auf die schmalen Rippen und die gebusteten Kappen, die nur einen halben Stein dick waren, und die sich über den Kreuzrippen wölbten.
    Hin und wieder war das Ganze durch Balken und starke, eiserne Anker mit den Außenmauern verbunden. Deutlich konnte man auch hier oben den sorgfältig ausgemeißelten Schlussstein im Zentrum eines Gewölbes erkennen, der alles wie von Zauberhand zusammenhielt.
    Der Küster hatte für die Architektur keinen Sinn. Er ging zielstrebig auf eine Mauernische zu, die einen fantastischen Blick auf den Teil der Stadt ermöglichte, der von der Oberschule und den Backsteinhäusern im Umkreis der Musikhochschule dominiert wurde.
    Draußen dämmerte es. Ein leichter roter Schleier lag über dem Horizont. Das war gewöhnlich ein Vorbote von schlechtem, stürmischem Wetter. Das Treiben unten in den Straßen drang nur dünn an sein Ohr.
    Lange Zeit stand er unbeweglich da und brummte vor sich hin. Plötzlich schoss aus einem der Fenster ein schwacher Lichtstrahl herauf, so, als würde es von dem Glas eines Fernrohrs herrühren.

     
    *

     
    Wochen später fand man seine Leiche in einer Ecke des Dachs. Er musste sich beim Sturz von dem schmalen Wegbalken oberhalb des Kirchengewölbes das Genick gebrochen haben. Seine billige Taschenuhr war zerbrochen und bei 18:16 stehen geblieben.
    Im Kirchenvorstand atmete man erleichtert auf, als der Statiker versicherte, dass das alte Kirchengemäuer durch die Wucht des Aufpralls keinen Schaden genommen habe.
    In der Tasche des Toten fand Kriminalinspektor Kroll einen Zettel, auf dem ein merkwürdiges Wort stand: ›maty‹.
    Kroll konnte sich das nicht erklären. Während er darüber nachgrübelte, band er sich umständlich einen Schnürsenkel zu, der sich beim Treppensteigen geöffnet hatte. Dann strich er sich mit dem Nagel seines linken Daumens über die Stirn. Das machte er immer, wenn er scharf nachdachte. Er hatte die Bewegung im Fernsehen gesehen, bei Inspektor Columbo, den er wegen seines Scharfsinns verehrte.
    Bedächtig holte er eine Pinzette aus der Manteltasche hervor, klammerte das Papier mit deren Spitze fest und steckte es in einen Plastikbeutel. Den überreichte er einem Kollegen von der Spurensicherung: »Fingerabdrücke, Schrift, Papier. – Sie wissen schon. Den Bericht möchte ich morgen auf dem Schreibtisch haben.« Dann ordnete er an, dass die Leiche fortgeschafft wird, und entließ seine Mitarbeiter in den wohlverdienten Feierabend.
    Ruhe kehrte wieder ein im Gottesgewölbe. Der Inspektor setzte sich auf einen staubigen, von Vogelschiet beschmutzten Mauervorsprung. Er achtete nicht darauf, so sehr war er in seine Gedanken vertieft. Ein merkwürdiger Fall, war seine Meinung. Weder Fisch noch Fleisch. – War es ein Unglück oder war es Mord?
    Kroll drehte sich gemächlich eine Zigarette, kramte sein Feuerzeug hervor, von dem er wusste, dass es sowieso nicht funktionierte, und steckte die Zigarette nach mehreren Fehlzündungen einfach kalt in den Mund. Wenigstens spürte er den Tabak auf der Zunge.
    Der Kriminalinspektor war in die Jahre gekommen. Das einst rebellische Haupthaar hatte einer Halbglatze weichen müssen. Seine Mitarbeiter hielten sie für sein Erkennungszeichen und nannten ihren Chef hinter vorgehaltener Hand die ›Verbrecherkrolle‹, wobei Krolle ein norddeutscher Ausdruck für Locke ist.
    Keine Locke – kein Verbrecher … Sollte das eine fiese Anspielung auf die Tatsache sein, dass es dem Inspektor bisher leider nicht jedes Mal gelungen war, einen Übeltäter zu überführen?
    Kroll war im Grunde genommen eher ein Romantiker als ein Mann der Tat. Und so hatten seine hinter buschigen Brauen verdeckten, tief liegenden Augen mehr den weichen Glanz eines Träumers als den harten Strahl eines Superagenten. Er versuchte, das Verbrechen mit dem Herzen, weniger mit dem Hirn aufzuklären. Das machte ihn für Außenstehende sympathisch.
    Sein Gesicht sah aus, als sei es zu oft im Schleudergang gewaschen worden. Den Ansatz zum Doppelkinn konnte er auch nicht mehr durch den ungebügelten dunkelblauen Wollschal verdecken. Durch seinen Zweifingerbart erinnerte
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