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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold
Autoren: Dieter Buehrig
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Erscheinung im Stadtbild von Lübeck. An der hinteren Brandmauer des Marionettenmuseums klebt eine bizarre, bis auf einige Mauerreste ausgebrannte Ruine, die eine Tragödie erahnen lässt. Zwischen den verrotteten Ziegeln und verkohlten Holzbalken versteckt sich ein Gewirr unbestimmbarer Zahnräder, Stahlfedern, Eisengerüste, Kabel und Metallbehälter. Trotzdem deuten die Trümmerreste darauf hin, dass hier einmal ein hochherrschaftliches Haus gestanden haben muss. Am verfallenen ehemaligen Eingangsportal erkennt man unter einer festen Ruß- und Dreckschicht noch ein paar Schriftzüge: ›Adrian Ampoinimera, Goldschmied und Uhrmacher‹.
    Eigentlich passt die Ruine überhaupt nicht in das Stadtbild. Doch eigenartigerweise ist dieser Schandfleck bis heute nicht beseitigt worden. Die offiziellen Stadtführer schweigen dazu. Es wird Ihnen schwerfallen, Näheres über die Ruine und die Brandursache zu erfahren. Weder das Internet noch Ihr Navigationsgerät geben Auskunft.
    Eine menschliche Tragödie, ein bedauernswerter Unfall, ein abstoßendes Kriminaldelikt? Oder lastet ein alter Fluch auf dem Gelände? Die Bewohner meiden den Ort. Die Leute haben eine alte Sage nicht vergessen. Ich möchte sie Ihnen nicht vorenthalten, bevor ich zu meiner eigentlichen Erzählung komme, der Geschichte dieser Ruine.
    Und da Sie, lieber Leser, sicherlich wissen, dass Raum und Zeit nie getrennt voneinander existieren können, ist es auch eine Geschichte über die Zeit, eine Geschichte über Vergangenes und über Vergängliches. Die Vergangenheit ist physikalisch gesehen nichts als der negative Teil der Zeitachse. Die Vergänglichkeit jedoch, das ist der Schatten, den die Zeit schon heute auf unsere Lebenswelt wirft.

     
    *

     
    Im Jahr 1493 starb auf dem Anwesen, auf dem jetzt die Brandruine steht, ein reicher und vornehmer Kaufmann, der wegen seines Geizes und seiner gotteslästerlichen Ansichten gefürchtet war. Er hatte sein Leben damit verbracht, religiösen Silberschmuck, vergoldete Reliquien, heilige Amulette und wertvolle Perlenketten aus aller Welt zu sammeln. Da er seinen Schatz liebte und niemand ihn erben sollte, verfügte er, dass alles zusammen mit ihm begraben wird. Erst nach 50 Jahren durfte das Grab geöffnet werden, und der Reichtum sollte dem Katharinenkloster gestiftet werden.
    Seine letzten Worte waren: »Hole euch alle der Teufel!«
    Als die Frist vergangen war, konnten es die Mönche kaum abwarten und öffneten den Sarg. Und siehe da: Der Schatz war verschwunden, der Leichnam lag jedoch frisch und unverwest darin, als ob die Reliquien seinen Körper am Leben gehalten hätten.
    Die Mönche, um ihren Gewinn gebracht, beschlossen, den Toten öffentlich auszustellen und gegen einen nicht unbeträchtlichen Obolus besichtigen zu lassen. Wer das Rätsel der Unvergänglichkeit löse, dem wollten sie täglich eine kostenfreie Messe lesen.
    Eines Tages kam ein Fremder, stieg in dem besagten Haus ab, das inzwischen eine Gastwirtschaft beherbergte, und wollte das Wunder sehen. Der Klostervorsteher beauftragte die Hausmagd, den Leichnam aus dem Keller des Klosters zu holen und ihn auf den Schanktisch zu legen.
    Die gute Frau zierte sich sehr und ging erst, als der Fremde ihr einen Beutel Dukaten anbot. Sie holte den unverwesten Körper und legte ihn wie befohlen auf den Tisch.
    »Da lieg in Gott!«
    Kaum hatte sie das ausgesprochen, erhob sich der Tote und sprach: »Ich danke dir. Jetzt bitte den lieben Gott auch noch, dass ich verwesen möge!«
    Zweimal bat er die Magd. Jedes Mal antwortete eine ferne Stimme, die vom Dachboden herzukommen schien: »Nein, Gotteslästerer, nein!«
    Erst beim dritten Mal erschütterte ein lautes Krachen das Haus und man hörte die geheimnisvolle Stimme rufen: »Wohlan, um der guten Magd willen sei er verwest.«
    Ein scharfer Windstoß durchfuhr die Schenke. Dann war der Leichnam verschwunden.
    Als die Mönche am nächsten Tag die Gruft aufräumen wollten, fanden sie die Körperreste des Leichnams darin. Er war über Nacht zu Staub und Asche geworden.
    Die Ordensbrüder betteten ihn zur letzten Ruhe und ließen sich von dem Fremden einen gehörigen Batzen ausbezahlen.
    Die Magd lebte von ihren Dukaten glücklich bis an das Ende ihrer Tage und bekam dazu noch jeden Tag eine Messe für ihr Seelenheil gelesen.
    Der heilige Schatz – im Volksmund zu Unrecht ›Wikingerschatz‹ genannt – jedoch blieb für immer verschwunden.

     

Kapitel 1: Der Küster

    »Lass die Finger davon!«
    Der Küster,
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