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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold
Autoren: Dieter Buehrig
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Aina keine kannte. Der verschlafen wirkende Mann neben dem Rektor schien der Kirchenmusiker zu sein. An seinem Revers prangte eine goldene Plakette mit dem Motiv der Marienkirche.
    Ganz rechts jedoch, gleich in der Nähe des Flügels, entdeckte sie die elegante Dame von vorhin. In ihrer Aufregung merkte Aina gar nicht, dass die Dame sie freundlich, aber unauffällig musterte.
    Das Vorsingen der anderen Kandidaten war ermüdend. Mal bemühte sich der eine, mal der andere Prüfer ans Klavier, um die verängstigten, ja verknitterten Prüflinge lustlos zu begleiten. Was für ein Unterschied zu der Musik vorhin vor dem Marionettentheater! Das sind verschiedene Welten, sinnierte Aina. Aber – werde ich es denn besser hinkriegen? Wahrscheinlich spielte der Konkurrenzneid auch bei ihr schon eine Rolle.
    »Nächster bitte! – Cortes – Cortes, Aina!«
    Endlich kam sie an die Reihe. Hastig stieg sie die Bühnentreppe hinauf.
    »Was haben wir denn heute auf dem Programm?«, fragte freundlich der Rektor-Bassist. Er tat extra unwissend, um der jungen Frau Mut zu machen. In Wahrheit wusste er über alles Bescheid. Denn das Programm stand ja in seinen Prüfungsunterlagen.
    »Ich würde gern mit einem Lied von Richard Strauss beginnen, ›Die Nacht‹«, flüsterte Aina mit belegter Stimme.
    »Oha, starker Tobak! Was Leichteres ist Ihnen wohl nicht eingefallen?« Der Prüfungsvorsitzende blickte sie über seinen Brillenrand scheinbar vorwurfsvoll an. Wieso müssen Bassisten immer diese auffälligen Buddy-Holly-Hornbrillen tragen?, dachte Aina. Laut aber sagte sie zögerlich: »Ja, ich meine … Das Lied gefällt mir eben, der Text spricht mich an, besonders die Stelle ›… oh mir bangt, sie stehle dich mir auch …‹.«
    Der Kirchenmusiker unterbrach sie unsanft: »Wir wollen hier keine gymnasialen Gedichtsinterpretationen hören, sondern Ihre Stimme! An die Arbeit also!«
    Aina nestelte verdattert an ihren Noten herum. Am liebsten würde sie die vorhin begonnenen Einsingübungen zu Ende bringen. Aber dazu fehlte ihr jetzt die Zeit. Die elegant gekleidete Dame stand langsam auf, begab sich an den Flügel, fummelte ein wenig an der Höhenverstellung des Hockers herum und ordnete umständlich ihre Noten.
    Dabei waren es doch nur zwei Blätter. Wahrscheinlich wollte sie der jungen Sängerin etwas Zeit geben, sich an das plötzliche Scheinwerferlicht zu gewöhnen. Aina brauchte ihre Noten nicht. Sie konnte die Musik auswendig.
    Das Werk von Richard Strauss galt nicht als ein Stück, um Stimmkraft oder Virtuosität zu demonstrieren. Wie aus dem Nichts formten sich die ersten leisen Klaviertöne. Aina musste sotto voce und pianissimo mit einer Unterterz einfallen. Sie wusste, dass der Anfang das Schwierigste sein würde.
    Aber sie schaffte es, auch wenn es noch ein bisschen unsicher klang. Nach wenigen Takten spürte sie wohltuend die Anwesenheit der Pianistin. Es war, als würde diese sie wie durch ein zartes, unsichtbares Band sicher durch die schwere Arie führen, in der alles so empfindlich verhalten sein musste.
    Aina fühlte sich bald wie eine lebendige, zerbrechliche Marionette in der Hand dieser Frau. Das machte ihr nichts aus. Im Gegenteil. Ihr wurde klar, dass sie noch viel von ihrer erfahrenen Begleiterin lernen konnte.
    Die schwere Schlussphrase gelang Aina perfekt. Jetzt spürte man nichts mehr von der anfänglichen Unsicherheit. Die Musik verebbte in einem kaum wahrnehmbaren, tiefen C-Dur-Dreiklang, als wäre sie in einer nebligen Nacht untergetaucht.
    Noch lange ließen die beiden Musikerinnen den Klang in ihrem inneren Ohr nachwirken. Auch bei der Prüfungskommission und im Zuschauerraum herrschte minutenlang eine verzauberte Ruhe. Es war, als hätte Richard Strauss zu seinem Stück noch ein paar Takte mehr komponiert. – Musik der Stille.
    Dem Rektor fiel gar nicht auf, dass er schon längst seine Hornbrille abgesetzt hatte. Der Kirchenmusiker drückte seine Anstecknadel fest aufs Herz. Und der Gesangsdozentin war der Bleistift aus dem immer noch offenen Mund gefallen.
    Ein paar Beifallsklatscher seitens der Studenten, die jetzt nicht mehr so verknittert dreinschauten, zerstörten die Atmosphäre.
    Wer hat bloß das dämliche Beifallklatschen erfunden?, grübelte der Rektor. Aber es bot ihm einen willkommenen Anlass, die üblichen Formalien zu erledigen.
    »Schön, Frau Cortes. Sie können gehen. Sie hören dann von uns. – Und vielen Dank für das Korrepetieren, verehrte Frau Ampoinimera.«
    Die auffällig
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