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Schattengeschichten

Schattengeschichten

Titel: Schattengeschichten
Autoren: Hauke Rouven
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überschlug sich wie die bei einem kreischenden Mädchen. Das Echo des Fegefeuers, das Schnurren im Raume, zerrte an seiner Konsistenz. Der Mann schrie noch lauter, als die andere Schwärze an seiner Haut so stark zog, dass sie sie von seinen Muskeln perlte, und dann die Muskeln von seinen Knochen. Die aufsteigenden Blutfontänen wurden von der Sogwirkung abgefangen und ebenfalls ins Innere der Dose geleitet. Därme mit Stoff und den Fesseln vermischt erhoben sich über dem Boden und wurde aufgesogen. Ernst Stuhmann wurde in seine Bestandteile zerlegt. Wie ein unfertiges Puzzle verschwand er schließlich ganz im Inneren des Echos. Stuhl, andere Möbel, Fotos und der Putz der Wände folgten ihm, dann die Backsteine der Wand, ein großes Loch brach auf und gab den Blick frei auf die kleine Gasse dahinter, die an das Haus mit Herberts Geschäft grenzte.
    „Wofür brauche ich mein zweites Auge, wenn eines solche Wunder sehen darf?“, flüsterte Gerrit vor sich hin, als er sich auf den Weg in den Verkaufsbereich machte. Noch immer kratzte er an dem Boden der Filmdose, und alles, auf das er die Öffnung richtete, wurde angesogen, auseinander gelegt und verschlungen. Hier und jetzt und für den Rest seines Lebens konnte Gerrit Teile der Welt, die ihm nicht gefielen, verschwinden lassen. Einfach so. Welch ein Irrender musste er sein, wenn er sich diese Chance entgehen ließ? Und es gab eine Menge Dinge, die ihm nicht gefielen.
    Im Laden war kein einziger Kunde. Warum Herbert die Polizei nicht rufen wollte, war Gerrit ein Rätsel, mehr noch, es regte ihn auf. Es schien, als ob im Fotolabor nichts passiert wäre, als fehlte kein Auge in Gerrits Gesicht. Und Heike, die blonde Tochter vom Chef, saß auf einem Stuhl und feilte ihre Fingernägel. Die Regale zu ihrer rechten waren zum Bersten voll mit Fotofilmen, wenige kauften sie noch, hauptsächlich professionelle Fotografen. Die leeren Filme in ihren Verpackungen waren das erste, was das Echo des Fegefeuers ergriff, als Gerrit den Raum betrat. Klackend prallten sie aneinander, eine Armada von rechteckigen Verpackungen, die sich in der Luft nebeneinander reihten wie die Schlachtschiffe in Science Fiction-Filmen. Kurz darauf verschwanden sie alle in der Dose. Die Regale selbst und die Wand dahinter folgten ihnen.
    Das Schnurren des Echos hatte Herbert und Heike irritiert, beim Klacken der Dosen hatten sie aufgeblickt, aber erst als der Unterdruck an ihnen zerrte, öffneten sich ihre Münder und sie schrien verzerrt in ihren letzten Sekunden, bevor Kleidung und Haut, Eingeweide und Knochen, Stücke des Tresens und die Fronttür des Ladens, die Scherben der Fenster und die Registrierkasse, bis sich alles vor Gerrit und dem Maul des Echos in einer gigantischen riesigen Kugel sammelte und dann Stück für Stück verschlungen wurde. Blitzartig, nur ein Mal gezwinkert und es war vorbei. Das Echo zog die Wagen von der Straße und den Häusern von gegenüber ihre Dächer ab. Passanten wurden angehoben und ihre Körper zwischen Metall und Stein gepresst. Gerrit wollte nicht aufhören, er kratzte fordernder, dringender am Dosenboden.
    Die Kugel vor dem Echo des Fegefeuers wuchs, ihr Durchmesser länger als Gerrit selbst, aber er spürte nicht ihr Gewicht. Das Maul fraß leicht und behäbig, wie ein alter Gaul. Gemächlich saugte es Bäume an, Wiesen und weitere Menschen. Die Sogkraft des Echos schien sich mit jedem Meter, den es sich vorgefressen hatte, zu erweitern. Bald landeten die Bauarbeiter und ihre Gerüste zwei Straßen weiter vor dem Maul, das Schild eines Cafés im benachbarten Stadtteil folgte, weiterhin Wagen mit Insassen und ohne, Häuserdächer und Hunde, Lebensmittel und Gardinen. Ein Lärm trompete durch die Luft, als sich alles zu dieser runden Masse verband. Schlürfende und schreiende Laute, knackende und ziehende, brechende und reißende.
    Gerrit hörte nicht auf, als Meerwasser heran gezogen wurde oder als er den Eiffelturm verschlang, und den Big Ben, die Freiheitsstatue, die Pyramiden. Er wollte sehen und wissen, wie es war, wenn alles verschlungen wurde, was würde dann kommen? Würde das Echo die Erde verschlingen? Ihn selbst? Wie weit konnte Gerrit gehen? Als das Ozonloch gefressen wurde und die Weite des Alls sich mit allem Verbliebenen der Erde mischte, starb Gerrit qualvoll, indem er erstickte. Als sein Zeigefinger zu kratzen stoppte, erhob sich das Echo des Fegefeuers in die Schwerelosigkeit des Alls und verschwand in einer tiefen Schwärze, die seiner
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