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Schatten über Sanssouci

Schatten über Sanssouci

Titel: Schatten über Sanssouci
Autoren: O Buslau
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Gesetzeshüter, er erhebt sich über Recht und
Ordnung, er ist ein Querulant ohnegleichen.«
    Otto kannte
Menschen wie von Grabow. Ständig mischten sie sich in Angelegenheiten, die sie
nichts angingen. Ständig verurteilten sie andere, um von den eigenen Fehlern
abzulenken. Auf keinen Fall wollte er klein beigeben, aber er wollte sich auch
nicht zu einer unbedachten Bemerkung hinreißen lassen, die er im Nachhinein
bereuen würde. Deshalb atmete er tief durch und sagte ruhig: »Ich weiß gar
nicht, warum Sie sich so aufregen. Ihnen muss doch klar sein, dass schon bald
alle Straßen von Berlin mit Fahrradfahrern bevölkert sein werden. Niemand –
auch Sie nicht – kann den Fortschritt aufhalten.«
    »Sie sind nicht
nur ein Querulant, sondern Ihnen und Ihresgleichen ist nichts heilig«, platzte
von Grabow heraus. »Die Radfahrer stören das sittliche Empfinden jedes
anständigen Christenmenschen. Die Betonung der Körperlichkeit geziemt sich
nicht. Und stellen Sie sich nur vor, Vitell, unsere Ehefrauen kämen auf die
Idee, auf diesen Vehikeln zu fahren. Mit ihren intimsten Stellen würden sie auf
dem Sattel hin- und herrutschen und lustvolle Empfindungen verspüren, die sie
in einen Zustand der –«
    »Herr
Kriminaldirigent«, unterbrach ihn Vitell, »Sie vergessen sich ja!«
    »Keineswegs«,
erwiderte von Grabow. »Ich bin vielmehr der Einzige, der die Gefahr erkennt.
Diese Fahrräder sind Ungetüme aus Stahl und Blech, die die Sittlichkeit
untergraben. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie unsere Straßen bevölkern. Wir
müssen diese Bewegung bekämpfen, und zwar mit allen Mitteln.« Von Grabow holte
tief Luft und bohrte seinen Zeigefinger in Ottos Schulter. »Damit Sie es
wissen: In meiner Abteilung haben Leute wie Sie keinen Platz. Und wenn Sie noch
einmal Unter den Linden aufgegriffen werden, hilft kein Gerede mehr. Dann
landen Sie im Gefängnis. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«

In der Arztpraxis, zwanzig Jahre nach Courcelles
    Am nächsten Morgen
krabbelten Kakerlaken über seine Haut und drängten sich in seinen Anus, um ihn
von innen zu zerfleischen. Er konnte die Spannung kaum noch ertragen, aber wenn
er sich hier, vor der Stadtvilla in der Kurfürstenstraße, die Kleider vom Leib
riss, um das Ungeziefer zu zerquetschen, würden ihn alle für wahnsinnig halten.
Das ist nur Einbildung, dachte er. Das existiert nur in meinem Kopf. Sobald ich
meine Medizin habe, beruhigt sich alles. Ungeduldig läutete er, bis sich vor
ihm die Tür öffnete.
    »Ist Dr. Saretzki
da?«, fragte er hastig.
    »Er ist im
Behandlungsraum«, erwiderte das Dienstmädchen und trat schnell zur Seite.
    Er stürmte über
die weichen Teppiche. Jeder Schritt schmerzte in den Kniegelenken, die schon
seit Jahren von der Knochenerweichung befallen waren. Wehe, er hat die Medizin
nicht besorgt!, dachte er. Wehe, er hält mich wieder hin! Durch die riesigen
Buntglasfenster fiel das Morgenlicht. Auf einer Vitrine stand ein Samowar, der
auf Hochglanz poliert war. Russische Ikonen und Bilder der Zarenfamilie zierten
die Wände, doch für all das hatte er keinen Blick. Ohne anzuklopfen, riss er
die Tür auf und betrat den Behandlungsraum.
    Dr. Fjodor
Saretzki saß in Hemd und Weste hinter seinem Schreibtisch. Er war von kleiner,
bulliger Statur. Fast hatte es den Anschein, als würde sein quadratischer
Schädel direkt auf den Schultern sitzen. Auf die eingedrückte Nase zwängte sich
ein Kneifer, und als er nun sprach, sprang sein Mund wie das Maul einer Muräne
vor. »Setzen Sie sich. Ich habe noch zu tun.«
    Hasserfüllt
blickte er den Arzt an, der so viel Macht über ihn besaß. Als einziger Mensch
hier in Berlin wusste Dr. Saretzki, dass er in Courcelles kastriert worden war.
Als einziger Mensch konnte er ihm seine Medizin beschaffen. Nur weil er ihn
brauchte, ließ er sich diese Behandlung gefallen.
    Endlos lang
kratzte die Feder des Füllfederhalters über das Papier. Irgendwo tickte eine
Standuhr. Plötzlich erhob sich Dr. Saretzki und ging zu einem Schrank, wo er
die Akte verstaute. Er kam mit einer neuen zurück, setzte sich wieder hin,
schlug den Deckel auf und vertiefte sich in die Aufzeichnungen. Dann blickte er
auf. Seine grauen blanken Augen erinnerten an Murmeln. »Haben Sie Beschwerden?«
    Er biss die Zähne
zusammen und zuckte nur mit den Achseln. Was für eine Frage! Beschwerden!
    »Wie sieht Ihr
Harn aus?«
    »Unverändert.«
    »Ist Blut
enthalten?«
    Er nickte.
    »Eiter?«
    Erneutes Nicken.
    »Fett und
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