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Schamland

Schamland

Titel: Schamland
Autoren: Stefan Selke
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mögen oder nicht brauchen. ›Sie können sich hier doch nichts aussuchen‹, heißt es dann vorwurfsvoll. * ›Ja schauen Sie mal, was Sie kriegen, für so wenig Geld.‹ Da sind wir fassungslos. * Was man nicht braucht, das schmeißt man dann zu Hause weg. * Oder wir tauschen es nachträglich so ein bisschen. * Später, auf der Straße. *
    Auf der Straße werden dann die Tüten derjenigen, die vor uns aus der Tafel kommen, mit einer Art Röntgenblick durchleuchtet. Wir sind ständig dabei zu vergleichen, * feine Unterschiede wahrzunehmen. Guckt da noch etwas aus der Tüte raus? Ist die Tüte dicker, praller, schwerer? Auch wenn man nicht direkt sieht, wer was bekommt. Es wird ja sowieso dar­über gesprochen. * Wenn man draußen steht, wenn man sein Zeug hat und eine Zigarette raucht. Dann wird auch darüber gesprochen. ›Was hast du gehabt?‹ Wir unterhalten uns dar­über. *
    Und genau das ist das Traurige an den Tafeln. Im Supermarkt haben wir gelernt, die anderen Kunden zu ignorieren. Wir achten nicht auf das, was auf dem Band liegt. Wir erlauben uns in Gedanken höchstens ein harmloses Spiel. ›Zeige mir deinen Einkauf, und ich sage dir, wer du bist.‹ Niemand käme auf die Idee, die Inhalte und Gegenstände des Einkaufs anderer Kunden zu kommentieren. Aber bei der Tafel schauen wir ganz genau hin. Die Leute werten das natürlich aus – und dann gibt es Theater. * Konflikte gibt es immer dann, wenn ­einer mehr rausträgt als der andere. Es gibt auch viele Neider untereinander. * Da regt sich einer auf, weil er nur eine halbe Quarksahnetorte bekommt. Wegen einer Quarksahnetorte gibt es dann Stress. Ein anderer bekommt keine Bockwurst in seine Tüte, obwohl alle anderen eine hatten. * Der Neid ist allgegenwärtig, der Umgang untereinander Kampf. Alle gucken auf die anderen. Nimmt der jetzt auch nicht zu viel? * Es ist hart. Da ist keine Harmonie vorhanden, auf gar keinen Fall. * Diese Konflikte können schon mal eskalieren. Gerangel, Geschubse, Drohungen mit Messern – da rückt auch mal die ­Polizei an. *
    Wir sind keine Kunden, wir sind Konkurrenten. Dieser Neid tötet jede Form der Solidarität. Dieses gegenseitige Sich-nichts-gönnen-können. Am Anfang haben wir gedacht, dass alle, die zur Tafel gehen, arm sind. Und dass man dann zusammenhält. Das ist aber nicht der Fall.
    Man frisst sich gegenseitig fast auf. *
    Wundertüten
    Tafeln gleichen einer Wundertüte. * Wir sind immer gespannt. Bei Tafeln ist es immer so, als würden wir Geschenke aus­packen. Wir wissen nie, was wir bekommen. * Wir nennen es nicht Lebensmittel, sondern ›Ware‹. * Mit der Ware, die wir mitnehmen, sind wir meist zufrieden. Auf den ersten Blick entstehen Glücksgefühle. Manche stehen vor der Ausgabe und möchten heulen. * Es ist absolut der Wahnsinn. * Das Einzige, was wir bei den meisten Tafeln selten bekommen, ist Fleisch. Was auch Vorteile hat. Wenn es kaum Fleisch gibt, wird man langsam zum Vegetarier. *
    Aber sonst gibt es alles. Obst und Gemüse. Marmelade und Käse. Nudeln und Brot. Und es ist nicht immer alles abgelaufen. * Erst auf den zweiten Blick merken wir, dass das Angebot ein wenig einseitig ist. Es gibt nur fetten Käse oder Diät-Marmelade. Meist gibt es nur eines reichlich: Brot. Es gibt so viel Brot, einen Berg Brot, den können wir gar nicht essen. * Dafür gibt es kaum die Dinge, die wir gerne hätten. Es gibt Arbeiter-­Essen und viel Süßigkeiten. * Man kann nicht verhungern, aber die Vitamine bleiben auf der Strecke. * Natürlich gibt es Tage, da kriegen wir richtig viel für unser Geld. * Manchmal sogar zu viel: Wir können keinen Berg Weintrauben essen. * Wir können auch keinen Berg Blumenkohl essen. *
    Manchmal sind sie aber auch wirklich zu sparsam. Da wird gebunkert. * Vielleicht denken sie sich auch, dass ein Hartz- IV -Empfänger nicht mehr im Kühlschrank haben sollte als sie selbst. * So werden wir an der kurzen Leine gehalten. Die achten darauf, uns nicht zu viel zu geben, damit wir uns nicht dran gewöhnen. * Diese Logik tut uns weh! *
    Auch Luxusware erreicht uns als Resteposten. * Das Normale zu bekommen ist eher die Ausnahme. * Bei der Tafel bekommen wir oft Sachen, die wir uns selbst nie gekauft hätten. Essen, das wir uns vom ›normalen Geld‹ nicht leisten können. * Lachs. Oder auch Blumen. Besonders nach dem Frauentag geben die Supermärkte die dann raus. *
    Die Wundertüte wird ganz systematisch geleert. In Tafeln, die nach dem Thekenprinzip funktionieren, halten wir ganz
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