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Scatterheart

Scatterheart

Titel: Scatterheart
Autoren: Lili Wilkinson
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trüben Tageslicht erkannte Hannah nun, dass es sich um eine junge Frau handelte, die kaum älter als zwanzig sein mochte. Sie war recht groß und hatte breite Schultern und lange Beine. Sie starrte vor Schmutz und ihr Gesicht war von Schorf und Pickeln übersät. Das Haar war dünn und strähnig und ihr fehlten einige Zähne. Sie hatte einen schmutzigen Rock an und ihr Mieder war so eng geschnürt,dass ihre Brüste hervorquollen. Auf ihrem Kopf trug sie Hannahs Haube. Die Frau saß auf dem Boden, den Rock nach oben geschoben, die nackten Beine ausgestreckt, und lehnte an einem dunkelhaarigen, bärtigen Mann, dessen eine Hand lässig auf ihrem Bein ruhte. Hämisch starrte sie Hannah an und hielt einen Kanten Brot hoch.
    »Willst du?«
    Beim Anblick des Brots lief Hannah das Wasser im Mund zusammen, aber sie beherrschte sich.
    »Ich glaube, Sie haben meinen Hut«, sagte sie höflich. Die Frau lachte und erwiderte in einem gekünstelten Tonfall: »Ach, die Dame wird sich wohl täuschen. Das ist meine Haube, ein Geschenk von meinem Black Jack. Ein Häubchen von meinem Täubchen.« Sie tätschelte den Arm des Bärtigen. Dieser schlug ihren Rock ein wenig zurück und ließ seine Hand an ihrem Schenkel hochwandern. Hannah errötete. Die Frau gab ihr vornehmes Getue auf und betrachtete den Brotkanten.
    »Du kriegst das Brot. Willst du?«
    Hannah nickte.
    Die Frau lächelte und zeigte ein paar einzelne graue Zähne. »Und ich will deinen Mantel.«
    Hannah fasste mit ihrer Hand an den Pelzkragen. Die Frau hatte schon ihre Haube gestohlen, womöglich auch ihre Schuhe und die Handschuhe. Ihren Mantel sollte sie nicht bekommen!
    »Ich lasse Ihnen meine Haube für das Brot!«, sagte Hannah.
    »Ein faires Angebot«, räumte die Frau ein. »Zeig her.«
    Hannah erwiderte verärgert: »Sie haben sie auf.«
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Denkst du, ich bin besoffen, oder warum willst du mir meinen eigenen Hut andrehen? Gib mir den Mantel und der Kanten gehört dir.«
    »Nein danke«, sagte Hannah, »ich glaube, ich warte lieber bis zum Lunch.«
    Die Frau brach in schallendes Gelächter aus. »Lunch!«, schrie sie und klammerte sich an den Arm des Bärtigen. »Hast du das gehört, Black Jack? Lunch! Die hat wohl im Palast gewohnt. Gnädige Frau wünscht einen Lunch!« Sie schlug sich auf die Schenkel. »Hier in Newgate gibt’s keinen Lunch, Gnädigste. Und Dinner oder Abendessen gibt’s auch nicht. Das hier«, sie wedelte mit dem Brotkanten, »das hier ist alles. Bis morgen früh.«
    Hannah sah das Brot an. Ihr Magen knurrte. Aber sie dachte daran, wie kalt es in der Nacht gewesen war, und schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier sowieso nicht lang«, sagte sie. »Es ist alles nur ein Missverständnis.«
    Diese Worte lösten bei der Frau einen neuerlichen Lachanfall aus. »Natürlich, Gnädigste haben gar nichts verbrochen.«
    Hannahs Augen verengten sich. »Sie haben ja keine Ahnung, wer ich bin«, sagte sie. »Aber früher oder später wird jemand kommen, der mich kennt, und dann könnt ihr alle etwas erleben.«
    Sie ging zum Eimer und schöpfte eine Handvoll Wasser. Es schmeckte nach Erde und Eisen, aber ihr Hals war ausgedörrt und wund vom Erbrechen. Anschließend stakste sie vorsichtig zu der vergitterten Tür und wartete darauf, dass der Wärter zurückkehrte.
    Einige Mithäftlinge schliefen, andere spielten Karten oder würfelten und tranken gierig aus dunkelbraunen Gin-Flaschen. Eine hochschwangere Frau lag unbeholfen auf dem Boden, ihre Hände ruhten auf ihrem gewölbten Bauch. Eine andere Frau stillte einen Säugling. Hannah beobachtete sie eine Weile fasziniert und ein wenig entsetzt, aber als die Frau zu ihr herübersah, errötete sie und schaute weg.
    Wurden alle kleinen Kinder auf diese Weise gefüttert? Hannah konnte sich das kaum vorstellen. Hatte sie etwa auch von der Brust getrunken?
    Hannah hatte keine Erinnerung an ihre Mutter, aber sie war davon überzeugt, dass ihre Mutter sie niemals auf diese Art gefüttert hätte. Ihr Vater hätte so etwas vulgär gefunden.

    Gerade als Hannah und Mr Behr vom Hyde Park zurückkehrten, kam Arthur Cheshire auf dem Weg zum Frühstück die Treppe hinunter. Er trug einen dunkelgrünen Morgenmantel aus Brokat, der mit grellbunten exotischenVögeln und Blumen bestickt war. Dunkle Ringe lagen um seine Augen und sein Gesicht sah erschöpft und zusammengefallen aus. Er warf einen kurzen Blick auf seine durchnässte Tochter und ihre aufgelöste Haartracht und presste die Lippen
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