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Scatterheart

Scatterheart

Titel: Scatterheart
Autoren: Lili Wilkinson
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bei Kerzenlicht.
    »Aber zuerst will ich auch noch ein Tier machen«, sagte Hannah. Sie streifte den Pelzmuff ab, in dem sie ihre Hände gewärmt hatte, und kniete sich in den Schnee. Sie kräuselte konzentriert die Stirn. Es sollte eine Giraffe werden, aber der lange Hals wollte ihr einfach nicht gelingen. Immer wenn sie den Kopf ansetzen wollte, knickte er ab. Ihre Finger kribbelten vor Kälte und ihr Kleid wurde nass und eiskalt.
    »Ein Hühnchen?«, riet Mr Behr.
    »Nein«, sagte Hannah, »ich bin noch nicht fertig.«
    »Ein Truthahn? Ein Otter?«
    Hannahs Werk fiel schon wieder auseinander.
    »Hm«, machte Mr Behr und betrachtete den formlosen Schneehaufen, »ein Maulwurf, der sich in einem Maulwurfshügel versteckt? Oder ein Ameisenbär, der sich als Ameisenhaufen tarnt?«
    »Das sollte eine Giraffe werden«, sagte Hannah.
    »Ach, natürlich«, entgegnete Mr Behr und seine Mundwinkel zuckten, »jetzt erkenne ich es.«
    Hannah hörte das Rattern einer Kutsche und schaute hoch. Ein vornehmer offener Zweispänner mit Lämpchenund Silberbeschlägen jagte über die Rotten Row. Sie überlegte, was die feinen Herrschaften wohl denken mochten, wenn sie sie wie ein Kind im Schnee spielen sahen.
    »Ich möchte nach Hause gehen, Mr Behr«, sagte sie.
    Ihr Hauslehrer schaute der Kutsche nach und zog eine Augenbraue hoch.
    »Sag doch Thomas zu mir«, meinte er. »Mr Behr klingt, als wäre ich mindestens hundert Jahre alt.«
    Hannah errötete und blickte zu Boden.
    Das Zucken um Mr Behrs Mundwinkel wurde zu einem richtigen Lächeln. »Weißt du was, ich baue noch ein Tier.« Er kniete sich neben sie und schaufelte Schnee auf die verunglückte Giraffe. Er duftete nach Zimt. Anschließend strich er den Schneehaufen glatt. Dann formte er daraus vier kurze Beine, einen rundlichen Leib und einen langen rechteckigen Kopf. Hannah sah ihm fasziniert dabei zu. Als er den Oberkörper vorbeugte, fiel sein Hut herab und landete umgekehrt im Schnee. Das ausgeblichene graue Seidenfutter war so verschlissen, dass es beinahe auseinanderfiel. Die Haare von Mr Behr waren hell, fast so hell wie der Schnee und standen wie zerzauste Gänsedaunen ab.
    Hannah spürte ein plötzliches Verlangen, ihm über die Haare zu streichen.
    Am Kopf des neuen Schneetieres entstanden zwei kleine Ohren. Mr Behr durchsuchte seine Hosentaschen undzog zwei Rosinen hervor, die er als schwarze Knopfaugen einsetzte.
    »Fertig.« Er stand auf und klopfte sich den Schnee von den Knien.
    Es war ein Bär. Ein weißer Eisbär.
    »Es war einmal ein Mädchen, das nannten alle Scatterheart…«, begann er.

An einem dunklen, stürmischen Abend saßen Scatterheart und ihr Vater am Feuer. Der Regen prasselte und der Wind riss an den Wänden ihrer kleinen Hütte. Plötzlich klopfte es dreimal an das Fenster. Der Mann sah hinaus. Dort stand ein großer weißer Bär.
    Als Hannah das nächste Mal wach wurde, sickerte fahles Tageslicht durch das kleine Gitterfenster. Sie setzte sich auf. Die Zelle drehte sich ein wenig um sie und sie zitterte.
    Ihre Handschuhe waren verschwunden, ebenso ihre Haube und ihre Schuhe. Sogar die Spitzenborte ihres Kleidersaums war abgerissen worden.
    An der Wand saß eine alte Frau. Ihr Gesicht war so zerfurcht, dass Hannah sie auf mindestens hundert Jahre schätzte. Sie hatte ein altmodisches Mieder an, aber kein Oberteil, und sie trug einen mottenzerfressenen Rock von unbestimmter Farbe. Sie sah Hannah aus schwarzen glänzenden Augen an.
    »Jemand hat meine Haube und meine Schuhe weggenommen«, sagte Hannah zu der alten Frau. »Haben Sie gesehen, wer das war?«
    Die Frau antwortete mit einem so starken schottischen Akzent, dass Hannah sie kaum verstehen konnte.
    »’ne Frau, die weint, is gradso zum Erbarmen wie ‘ne Gans, die barfuß läuft.«
    Hannah beobachtete eine dicke Laus, die am Arm der Alten hinaufkrabbelte. Mit einem Mal packte die Frau das winzige Tier und steckte es in ihren zahnlosen Mund.
    Sie kicherte. »Lecker, so ’ne frische Laus«, sagte sie kauend. Krachend ging die Zellentür auf und ein Wärter schob zwei Eimer hinein. In dem einen schwappte Wasser, der andere war mit Brotresten gefüllt. Die Gefangenen drängten sich darum und stürzten sich darauf wie hungrige Wölfe. Hannahs Magen knurrte. Sie stand auf und näherte sich vorsichtig dem Broteimer. Er war leer.
    »Na, Frollein, hungrig?«, sagte jemand hinter ihr.
    Hannah drehte sich um. Es war dieselbe Person, die sie in der Nacht von der Holzpritsche vertrieben hatte. Im
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