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Saukalt

Saukalt

Titel: Saukalt
Autoren: Oskar Feifar
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etwas mehr als zwei Monaten hatte schließlich auch der dicke
Pfarrer Römer seinen Protest aufgegeben und wieder angefangen, am Sonntag
Messen zu lesen. Das hatte er vorher nämlich eine Zeit lang nicht mehr gemacht,
weil er der Meinung war, dass die Ortsbewohner erst einmal in sich gehen und
über ihren Glauben nachdenken sollten. Das hatte ganz schön für Aufsehen
gesorgt. Ob er davon überzeugt war, dass sich die Menschen im Ort wirklich geändert
hatten oder ihm einfach nur fad geworden ist, blieb allerdings sein Geheimnis.
Jedenfalls nahm er seine Arbeit wieder auf und predigte genauso schön wie eh
und je. Nachdem alle Leichen beerdigt und der Medienrummel vorbei war, hatte
sich alles langsam wieder normalisiert. Und ›Normalisieren‹ hieß in Tratschen
eben, dass man über Vergangenes nicht mehr sprach. Weil auch totschweigen ist
eine Art, mit dem Unheil umzugehen. Das ist nicht nur damals und nicht nur in
Tratschen so gewesen. Auch heute neigen die Menschen vielerorts dazu, schlimme
Ereignisse einfach totzuschweigen. Wenn man so will, war die Wahl vom neuen
Bürgermeister der letzte Akt in dem Stück. Das Rennen machte der Fürnkranz
Josef. Aber nicht nur, weil er der einzige Kandidat war, sondern auch, weil er
sehr beliebt war im Ort. Kein Wunder bei seiner Frohnatur. Er war stets
freundlich und hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte seiner
Mitbürger. Schon während seiner Zeit im Gemeinderat gingen die Leute lieber zu
ihm als zum Friedel. Der war nämlich als Bürgermeister nicht besonders beliebt.
Von daher hatte es im Ort schon zu seinen Lebzeiten viele gegeben, die meinten,
dass der Fürnkranz Josef ein viel besserer Bürgermeister wäre. Will heißen,
dass es keine Rolle gespielt hätte, wenn sich noch ein zweiter Kandidat
gefunden hätte. Der Fürnkranz Josef wäre sicher auch dann Bürgermeister
geworden. Ohne Gegenkandidaten war es natürlich weit einfacher für ihn. Und für
die Wähler, die sich keine Gedanken über die Abgabe ihrer Stimmen machen
mussten, auch. Sei’s drum. Jedenfalls war es, nach außen hin, wieder gewohnt
friedlich, und der Inhalt des Dorftratsches drehte sich um meist harmlose
Dinge. Weil abgewöhnt hatten sich die Menschen die Tratscherei freilich nicht.
Sie war ja immer noch die einzige Abwechslung. Da konnten die Vorkommnisse des
Sommers auch nichts dran ändern. Und die Predigten vom Pfarrer Römer auch
nicht. Es liegt halt in der Natur des Menschen, sich unentwegt Gedanken darüber
zu machen, was andere so treiben. Wer betrügt seine Frau, wer pantscht seinen
Wein, wessen Ehe droht zu scheitern, wer hat wann, wo, was, zu wem oder über
wen gesagt. Wer schimpft über wen. Wer ist wahrscheinlich schwanger oder wird
es bald sein, und so weiter. Alles Themen, die sich wunderbar eignen, um den
Tag einer gelangweilten Hausfrau zu verkürzen. Natürlich war das Kaufhaus vom
Hörmann immer noch der Treffpunkt all der Tratschweiber. Und was dort so hinter
vorgehaltener Hand an Wahrheiten und Halbwahrheiten verkündet wurde, war für
die Leute im Ort jedenfalls viel spannender als alles andere, was auf der Welt
passierte. Ich meine, wie wichtig kann es für die Tratschener schon gewesen
sein, was im Rest der Welt damals so geschehen ist? Dabei finde ich persönlich
manches davon gar nicht so uninteressant. Weil politisch hat sich damals
unheimlich viel getan. Immerhin bekamen die Frauen in der Schweiz damals das
aktive und passive Wahlrecht, die Vereinigten Arabischen Emirate wurden
gegründet und sind, zusammen mit Katar, Bhutan, Bahrain und dem Oman, Mitglied
der Vereinten Nationen geworden, Greenpeace und Ärzte ohne Grenzen wurden
gegründet, in der Türkei gab es einen Militärputsch und, und, und. Nicht zu
vergessen, dass 1971 das Jahr gewesen ist, in dem der Speiseplan der Europäer
revolutioniert wurde, weil McDonald’s am 4. Dezember in München seine erste Filiale in Deutschland eröffnete.
Ja, es tat sich so einiges. Aber all das ging an den Bewohnern des Mikrokosmos
Tratschen ziemlich spurlos vorüber. Na ja, wie dem auch sei, ich will ja kein
Geschichtsreferat halten, sondern von einem Vorfall erzählen, der in Tratschen
für Aufsehen sorgte und wieder ein paar Menschen das Leben kostete. Angefangen
hat alles am 8. Dezember 1971. Ein Advent, der in die Geschichte von Tratschen
eingehen sollte wie kein zweiter.

2
     
    Ein sehr kalter und trüber
Dezembertag war das damals. Es hatte schon ein wenig geschneit, und alles sah
aus, als wäre es
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