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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang
Autoren: Anne Chaplet
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der Schreibtischsessel mußte mit. Und, blöderweise, die Steuerunterlagen.
    Jetzt hörte er schwere Schritte über sich. Annette Wagner hatte ihren mächtigen Körper in Bewegung gesetzt und ging durch den Flur hinüber ins Zimmer ihrer Sprößlinge. Er hörte sie keifen.
    Sie wußte noch nichts von ihrem Glück: ab heute Rücksichtnahme nicht mehr nötig! Noch glaubte sie offenbar, Max und Julian alle zwei Stunden anbrüllen zu müssen, um sich nicht nachsagen zu lassen, sie sorge nicht für Zucht und Ordnung. Will schüttelte sich beim Gedanken an ihr flaches Gesicht und an ihre kleinen dicken Hände. Sie wollte einfach nicht begreifen, daß er nicht kinderfeindlich war, sondern daß sie und er gemeinsam an etwas Drittem litten: an der schlechten Bausubstanz, Annette, kapier das doch endlich!
    Das Wohnhaus stammte aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts und hatte im Zweiten Weltkrieg eine Brandbombe abgekriegt. Die beiden obersten Stockwerke waren nach dem Krieg auf billigste Weise und mit geringerer Deckenhöhe wiederaufgebaut worden – das Problem, das daraus folgte, war weit verbreitet und hieß Hellhörigkeit. Man hörte nicht nur jedes Wort von oben, sondern auch von unten. »Ich kann dir alle deine Telefongespräche nacherzählen«, hatte Annette gezischt. Eben! Aber Annette brachte, wie die meisten Frauen, Ursache und Wirkung durcheinander.
    Wie Vera. »Erzähl mir bloß wieder, daß du kein Kinderfeind bist!« hatte sie eines Tages gesagt, als sie später als üblich aus dem Büro zurückkam und er sich bei ihr beklagte über den verdorbenen Arbeitstag. Es war in der Adventszeit gewesen, Annette hatte seit dem frühen Morgen direkt über seinem Kopf Weihnachtsmusik abgedudelt, während er an einem gefühlvollen Artikel über einen während der Nazizeit verfemten Frankfurter Architekten saß. Stille Nacht und Schneeflöckchen bis zum Abwinken. Es war grausam gewesen. Und dann kam Vera auch noch mit dem Superüberbeziehungskonflikt, von dem er gehofft hatte, er hätte sich durch Beschweigen von selbst erledigt.
    Will stellte die DVD-Kassette mit »Der Herr der Ringe« wieder zurück ins Regal. Über ihm klatschte die Wagner-Brut rhythmisch in die Hände und rief etwas. Hörte sich glatt an wie »Raus raus raus aus diesem Haus«. Kinder an die Macht, dachte Will. Eine blödere Parole hatte er noch nie gehört.
    Wenn er wenigstens noch festangestellt wäre. Die liebe Annette hatte den Finger gleich in die richtige Wunde gelegt: »Warum mußt du überhaupt zu Hause arbeiten? Andere Leute gehen tags doch auch ins Büro!« Na klar. Das hatte er ja getan, jahrelang. Es sei denn, es gab einen Text zu schreiben, für den man ein bißchen häusliche Ruhe brauchte. Aber mittlerweile war seine Zeitung von einem Organ der Meinungsführerschaft zu einer Art Sozialprojekt zurückgeschrumpft, in dem alle gemeinsam weniger arbeiteten und verdienten, in der Hoffnung, das würde die Geschäftsleitung von Kündigungen abhalten. Hatte es natürlich nicht. Ihm mußte man nicht groß nahelegen, was er längst ahnte. Bevor er an die Reihe gekommen wäre, ging er freiwillig.
    »Aber du hättest doch Arbeitslosengeld gekriegt!« Vera wollte nicht verstehen, daß er genau das vermeiden wollte. Er war ja nicht arbeitslos. Er hatte nur – na ja: den Aggregatzustand geändert. Nannte sich eben freier Journalist jetzt, ganz einfach.
    Das schlimmste war Annettes Lächeln, als er ihr mitteilte, er würde jetzt noch öfter als früher zu Hause arbeiten. Genauer gesagt: jeden Tag. Auch am Wochenende. In ihren Augen las er Verachtung für den Versager, der seine Frau arbeiten schickte und die Kinder anderer Leute terrorisierte – die Kinder, die später für seine Rente aufzukommen hatten! – sagte Annette und schürzte vorwurfsvoll die Lippen.
    »Woher weißt du das?« hatte er zurückgefragt. »Kinder, die so oft fernsehen, kriegen später Sozialhilfe, für die wir zu zahlen haben.«
    Sie hatte noch spitzer gelächelt, und dann ganz leise »Wovon denn?« gesagt.
    Gute Frage. Vera sah das offenbar ähnlich, jedenfalls behandelte sie ihn so, als ob er zu Hause säße, nichts Vernünftiges zu tun habe und nur darauf warte, daß sie ihm kleine Aufträge gab: Hol doch mal für mich die Bluse aus der Reinigung. Kannst du heute einkaufen? Was kochst du morgen? Er nahm Päckchen entgegen, er beantwortete Anrufe schöner als jeder Automat. Er putzte, er kochte, er machte den Hausmann. Und dann schnappte die Falle zu. »Wo du doch eh zu
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