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Saubere Verhältnisse

Saubere Verhältnisse

Titel: Saubere Verhältnisse
Autoren: Ma2
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freundliche blaue IKEA-Sitzgruppe, die Yvonne noch nie gesehen hatte, und Gardinen mit einem sonnengelben Tulpenmuster, die sie überhaupt nicht mit der Mutter verband. Aber die hohe, alte Kommode war noch da, ebenso wie der Sekretär, und die mußte sie ausräumen und wenigstens einen Blick auf den Inhalt werfen, bevor sie alles in die schwarzen Müllsäcke warf, die sie mitgebracht hatte.
    In der untersten Schublade des Sekretärs, unter einem Packen alter Theater- und Ballettprogramme fand Yvonne ein Foto von sich. Es war ein Schulfoto aus der siebten oder achten Klasse. Ihr erster Impuls war, es in kleine Stücke zu reißen, bevor sie es in den Müllsack warf, aber Jörgen war schneller und schnappte es.
    »Aber das bist ja du, Yvonne«, rief er aus.
    »Gib her«, hatte sie gesagt. »Das kommt weg.«
    Sie wollte nicht an diese Zeit erinnert werden. Und sie wollte noch weniger, daß Jörgen sie sah, wie sie damals war.
    Aber er hielt das Foto hoch über sich, schaute es lange an und sagte dann:
    »Ich weiß genau, was für eine Sorte Mädchen du damals warst.«
    Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, als würde der Fußboden in der Wohnung ihrer Mutter unter ihr weggerissen und sie stürze in ein schwarzes Loch. Sie streckte sich nach dem Foto, aber er zog es weg und hielt es noch höher, betrachtete es und fuhr mit einer bitteren und eintönigen Stimme, die sie bei ihm noch nie gehört hatte, fort:
    »Du warst eins von den hübschen Mädchen, bei denen ich nie eine Chance gehabt hätte. Du hast mit deinen Freundinnen auf dem Schulhof gestanden, und wenn ein Junge näher kam, dann habt ihr gekichert und gelacht und ihn unsicher gemacht, er wußte nie, ob ihr über ihn lacht oder über was anderes. Du warst so eine, die auf die Frage, ob man sie treffen könnte, ›vielleicht‹ gesagt hat. Und wenn man bei dir angerufen hat, und deine Mutter war am Telefon, hat man dich im Hintergrund flüstern hören, daß du nicht zu Hause bist. Du konntest einen Jungen mit deinen schönen, großen Augen anschauen, daß er sich Gott weiß was eingebildet hat, und später hat er dann erfahren, daß du mit einem blöden Typen zusammen warst, der mit der Schule fertig war und einen Führerschein hatte.«
    »Was?« rief sie aus.
    Jörgen schaute sie ernsthaft an.
    »Kannst du dir vorstellen, wie den Jungen zumute war, mit denen du erst geflirtet und die du dann hast stehenlassen?«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
    »Nein, das glaube ich dir sogar. Ich glaube nicht, daß die Mädchen von deiner Sorte wußten, was sie mit uns Jungen machten. Wie ihr unser Selbstwertgefühl untergraben habt. Ihr wart gut aussehend, selbstsicher und eingebildet. Wir haben euch gehaßt, weil ihr uns so weh getan habt.«
    Er machte eine Pause und betrachtete das Foto mit zusammengekniffenen Augen. Und mit einem kapitulierenden Seufzer fügte er hinzu:
    »Mein Gott, Yvonne – ich hätte dich vergöttert, wenn ich dich damals gekannt hätte!«
    Sie starrte ihn verwirrt an. War das eine besondere Form der subtilen Ironie? Hatte er etwas über ihre Vergangenheit erfahren?
    »Jetzt reicht es«, zischte sie.
    Sie streckte die Hand aus und schnappte das Foto. Sie drehte sich zum Müllsack, und gerade als sie es in kleine Stücke reißen wollte, hielt sie inne. Plötzlich sah sie, was Jörgen gesehen hatte:
    Ein junges Mädchen mit langen, schokoladebraunen, hübsch gekämmten Haaren. Leicht schräge braune Augen. Eine phantastisch glatte Haut. Ein Lächeln, zu groß, um echt zu sein, ein typisches »Cheese-Lächeln« für den Fotografen, aber die Steifheit konnte man auch als Arroganz und Überheblichkeit deuten.
    Ja, sie verstand, was Jörgen gemeint hatte. Warum hatte sie das hübsche Mädchen nicht gesehen, als sie als Teenager in den Spiegel geschaut hatte. Warum hatte sie ein Gesicht gesehen, das so häßlich war, daß sie alles tat, um es hinter langen Haarvorhängen zu verstecken, in Schals und Rollkragen, in die man das Kinn bohren konnte?
    »Ich hätte mich total in dich verliebt, wenn ich dich da gekannt hätte«, hatte sie Jörgen über die Schulter sagen gehört.
    Und in diesem Moment liebte sie ihn.
    Daß er in die Yvonne verliebt war, die in der Wohnung ihrer Mutter stand, bedeutete ihr nichts. Die selbstsichere sechsundzwanzigjährige Frau, die ihre Kleider in den großen Modehäusern kaufte, Kanebos Pflegeserie verwendete, ihren schlanken Körper im Fitneßstudio trainierte und ihr hochtouriges, effektives Gehirn mit Meditation
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