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Sarg niemals nie

Sarg niemals nie

Titel: Sarg niemals nie
Autoren: Dan Wells
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bin?«
    »Deine Flucht? Jeder kann fliehen. Das Drama liegt nicht in der Flucht, sondern in dem Leiden, das zur Flucht führt. Die wahre Größe menschlicher Gefühle vermag der Literat nur im tiefsten Leiden zu erfahren. Glücklich sein kann jeder.«
    »Allmählich verstehe ich, warum du in Pferdedecken schläfst.«
    »Ich wusste gleich, dass du es erkennst!«, rief er erfreut und pochte fröhlich mit der Faust auf die Decken. »Schon beim ersten Blick war mir klar, dass wir verwandte Seelen sind, geboren für das Leiden, das wir beglücktmit der Welt zu teilen wissen. Nun sag mir – was hat dich ins Gefängnis gebracht?«
    »Ich fürchte, es war nichts Aufregendes. In Bath gibt es einen bestimmten Bankier, bei dem ich beschäftigt war. Er hatte eine Tochter, die …«
    »Sag nichts weiter! Ich weiß bereits mehr, als du mir je erzählen könntest, denn diese Geschichte habe ich schon tausendmal gehört, und viele Versionen kenne ich aus eigener Erfahrung. Die verbotene Liebe, Frederick, ist vielleicht der größte Kummer von allen, und die Grausamkeit eines unnachgiebigen Vaters ist die Folter, denen sich junge Liebende unterwerfen müssen.«
    »Nun, eigentlich war es ganz anders, weil …«
    »Schäm dich nicht deiner Vergangenheit, mein Freund, denn sie hat dich zu dem Menschen gemacht, der du heute bist.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Heute bin ich ein entflohener Sträfling, der mit einem stinkenden ehemaligen Wundarzt in einer Kutsche sitzt. Wenn mich jemand sieht, werde ich sofort wieder ins Gefängnis gesteckt, und doch fahre ich schnurstracks und eilends in die größte und bevölkerungsreichste Stadt der Welt. Ich verstecke mich vor den Wachtmeistern und werde von einer Reihe … ungenannter Personen verfolgt … oder vielleicht von irgendwelchen Wesen. Und ganz allgemein muss ich sagen, dass meine Lage recht unangenehm ist. Ich bin dem Untergang nahe, John.«
    »Welch ein Glück du doch hast, mein Freund! Alles, was du brauchst, vermag ich dir ohne Weiteres zu geben.«
    »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir helfen könntest«, erklärte ich, »und sobald ich einige Besuche gemacht habe, werde ich dich großzügig entlohnen.«
    »Deine Freundschaft, Frederick, ist die schönste Belohnung, die ich mir überhaupt vorstellen kann.«
    »Verstehe. Nun denn, ich muss jedenfalls etliche Besuche machen, und vorher muss ich mich säubern.«
    »Säubern?«
    »Ich habe seit Tagen nicht mehr gebadet und sehe aus wie …«
    »Wie ich?«
    »Ja, irgendwie schon.«
    »Dann bleib bei mir, und niemand wird dich bemerken. Warst du schon einmal in London?«
    »Nur einmal, als ich noch ganz klein war.«
    »Das erklärt deine Befürchtungen. Ich kann dir versichern, dass du dir keinerlei Sorgen zu machen brauchst. Alle Einwohner sehen aus, als hätten sie seit Monaten nicht gebadet, und wenn die Stadt selbst einmal ordentlich abgeschrubbt würde, dann wäre die Hälfte der Gebäude nicht mehr vorhanden.«
    »Was ist mit meiner Kleidung?«, fragte ich.
    »Wir hüllen dich in Decken«, schlug John vor. »Bis wir dir bessere Sachen besorgen können.«
    »Und Essen?«, fragte ich. Es war mir peinlich, doch ich war am Verhungern, weil ich lange nichts mehr zu mir genommen hatte.
    »Wieder kann ich dich nur anflehen, dir keine Sorgen zu machen. Winston fährt uns zum Krötenloch , und so gut wie dort kann man sonst in ganz England nicht speisen, das verspreche ich dir.«
    »Ist Winston der Kutscher?«
    »Allerdings.«
    »Da hätten wir schon die nächste Schwierigkeit. Ich erzählte ihm, ich litte an einer Krankheit und sei ungeheuerhässlich. Wenn er mich sieht, wie ich wirklich bin, erkennt er sofort, dass ich gelogen habe.«
    »Keineswegs. Wir sagen ihm einfach, ich hätte dich geheilt. Er hält mich für den besten Arzt in ganz London.«
    »So schnell sollst du mich geheilt haben? Welche Krankheit könnte man in sechs Stunden heilen?«
    »Da gibt es sogar sehr viele. Die Menschen sollten meiner Meinung nach sowieso viel öfter krank werden. Das hilft ihnen, die Gesundheit zu schätzen.«
    Ich nickte und schloss die Augen. »Ja, das verstehe ich zwar, aber erst einmal muss ich mich ausruhen. Ich fühle mich wie ein Toter.«
    »Dann erholt dich gut, mein Freund, und erheb dich am Morgen aus diesem rollenden Sarg.«
    »Es wäre mir lieb, wenn wir das Gleichnis vom Sarg vorerst auf sich beruhen ließen, John. Ich bin heute Nacht schon einmal aus einem Grab auferstanden, und einmal ist mehr als genug.«

London · Früher
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