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Sarg niemals nie

Sarg niemals nie

Titel: Sarg niemals nie
Autoren: Dan Wells
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nur das Hungergefühl, verstärkt die Sehnsucht, versüßt die Vorfreude.«
    »Außerdem bringt es dich um, das darfst du nicht vergessen.«
    »Alles bringt dich um, Frederick – es ist ohnehin sinnlos, dies vermeiden zu wollen. Was zählt, ist nur die Frage, wie sehr wir das Leben genießen, und ich wage zu behaupten, dass ich das Leben in diesem Moment weitaus intensiver genieße als du.«
    »Das liegt nur daran, dass du nicht mit einem Verrückten redest.«
    »Die meisten Menschen glauben, der erste Bissen eines Mahls sei immer der beste – dieser allererste Augenblick, wenn das Essen den Gaumen berührt, sich um Zähne und Zunge schmiegt und den Hunger auf köstlichste Art und Weise stillt. Ich hingegen bin fest davon überzeugt, dass die Vorfreude auf den ersten Bissen das Allerbeste ist – der Magen schreit vor Hunger, die Sinne kribbeln im Duft des Essens und in der Vorahnung des Geschmacks. Wundervoll. Doch sobald du zubeißt, ist dieser Augenblick vorbei, und alles ist verloren. Die Erregung hat sich aufs Höchste gesteigert, und dann endet sie jäh, und du tust nichts weiter, als dich zu ernähren – ein höchst technischer Vorgang, den ich dir aus medizinischer Sicht ausführlich schildern könnte – und glaub mir, das ist alles andere als romantisch. Nein, Frederick, ich verderbe nie ein gutes Mahl, indem ich es verzehre.«
    »Hm-hm?«, machte ich, denn mein Mund war schon wieder zum Platzen gefüllt. Es war der fünfte Happen, seit John mit seiner Ansprache begonnen hatte.
    »Und dich dabei zu beobachten, wie du das Essen genießt, verstärkt nur meine Vorfreude darauf, wie gut mir das meine munden wird.«
    »Aber«, wandte ich ein, sobald ich hinuntergeschluckt hatte und wieder sprechen konnte, »wenn du es nie isst, woher kommt dann die Vorfreude?«
    »Es nicht zu essen, verstärkt die Vorfreude sogar noch.«
    »Ich dachte, es geht um die Vorfreude auf das Essen und nicht darauf, überhaupt nicht zu essen. Sobald du dich entschlossen hast, den Bissen nicht zu dir zu nehmen, ist die Enttäuschung für den Körper doch noch viel größer.«
    »Das wäre der Fall, wenn ich jemals einen Bissen zu mir nähme. Deshalb gehe ich nicht so weit – ich bleibe ewig in einem Zustand des Bereitseins, wobei ich mich weder zum Essen noch zum Nichtessen entschließe.«
    »Ich glaube, so etwas nennt man den Tod. Jedenfalls nach einigen Wochen, wenn du die Folgen zu spüren bekommst.«
    »Ja, der Tod – das absolute Ende von allem. Eine sehr poetische Art zu sterben, musst du wissen. Genau so will ich aus dieser Welt scheiden.«
    »Was denn – du willst verhungern?«
    »Nein, einfach nur sterben.«
    »Du willst sterben, indem du einfach stirbst? Soweit ich weiß, gibt es sowieso keine andere Möglichkeit.«
    »Aber natürlich gibt es die! Man nennt sie auch eine lange, sinnlose Existenz, und das ist der wichtigste Grund dafür, dass die Menschen nicht lebendig sind. Fast alle Londoner leiden an dieser Krankheit, und sie greift rasch um sich. Es gibt kein Ende und keinen feierlichen Abschied, nur ein unendliches Sichhinziehen, währendman rein gar nichts tut, nichts sagt und nichts ist. Entsetzlich.«
    »Im Moment scheinst du heftig damit beschäftigt zu sein, rein gar nichts zu tun«, sagte ich, denn die unberührte Gabel voll Essen schwebte noch immer vor seinem Gesicht.
    Er starrte den Happen eine Weile an und schien das Ganze aufs Höchste zu genießen, dann streifte er ihn von der Gabel und fuhrwerkte auf dem Teller herum.
    »Was ist denn los?«, fragte ich.
    »Ich habe genug von Würstchen und Stampfkartoffeln. Mich gelüstet nach Ei.« Er fand ein Stückchen Spiegelei unter den Kartoffeln und zog es hervor, hielt es sich vor den Mund und lächelte wieder.
    Ich aß weiter und beobachtete fassungslos meinen neuen Freund. So seltsam er auch war, ich musste doch immer wieder an die Ereignisse der vergangenen Nacht denken, die – wie ich mir sagte – wohl doch kein völliger Fehlschlag gewesen waren. Ich war den Wachtmeistern entkommen und vor den Vampiren geflohen, sofern es sich tatsächlich um echte Vampire gehandelt hatte. Inzwischen befand ich mich in London, nahm eine kräftige Mahlzeit zu mir und erfreute mich der Gesellschaft eines unerschrockenen, wenngleich seltsamen Freunds. Allein den Umstand, dass ich mich immer noch nicht umgezogen hatte, empfand ich als echten Makel.
    Nun schob John das Ei beiseite und starrte den Milchkrug an. Ich kaute unterdessen an der Wurst, spülte sie mit etwas Milch
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