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Sara Linton 01 - Tote Augen

Sara Linton 01 - Tote Augen

Titel: Sara Linton 01 - Tote Augen
Autoren: Karin Slaughter
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einen neuen Tiefpunkt dar. War sie denn nicht wegen der im Grady herrschenden Anonymität überhaupt in diese Klinik gekommen? Bis auf eine Handvoll obdachloser Männer und einiger Prostituierter sah sie kaum je einen Patienten mehr als ein Mal. Das war für Sara die Hauptattraktion gewesen – die absolute Distanziertheit. Sie war an einem Punkt in ihrem Leben, wo sie keine engeren Beziehungen mit Menschen eingehen wollte. Jedes neue Krankenblatt war eine Gelegenheit, um wieder ganz von vorn anzufangen. Wenn Sara Glück hatte – und wenn Faith Mitchell auf sich achtete –, würden die beiden sich wahrscheinlich nie wiedersehen.
    Anstatt ins Ärztezimmer zurückzugehen, um an ihren Krankenakten weiterzuarbeiten, ging Sara an der Schwesternstation vorbei und durch die Doppeltür in den überfüllten Wartebereich und befand sich schließlich draußen vor der Tür. Am Ausgang standen ein paar Atemtherapeuten und rauchten Zigaretten, Sara ging deshalb weiter zur Rückseite des Gebäudes. Das schlechte Gewissen wegen Faith Mitchell lastete auf ihr, und sie blätterte zu Delia Wallaces Nummer in ihrem Handy-Verzeichnis, bevor sie vergessen würde, ihr Versprechen zu erfüllen. Der Telefondienst nahm ihre Nachricht über Faith entgegen, und Sara fühlte sich etwas besser, als sie den Anruf beendete.
    Vor zwei Monaten war ihr Delia Wallace zufällig über den Weg gelaufen, als die Frau hier einen ihrer wohlhabenden Patienten besuchte, der nach einem schlimmen Autounfall mit dem Hubschrauber ins Grady gebracht worden war. Delia und Sara waren die einzigen Frauen unter den besten fünf Prozent ihrer Abschlussklasse an der Emory University Medical School gewesen. Zu der Zeit war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass es für Ärztinnen nur zwei Spezialisierungsmöglichkeiten gab: Gynäkologie oder Pädiatrie. Delia hatte sich für Ersteres entschieden, Sara für Letzteres. Beide würden sie nächstes Jahr vierzig Jahre alt werden. Delia schien alles zu haben. Sara kam sich vor, als hätte sie nichts.
    Die meisten Ärzte – Sara eingeschlossen – waren bis zu einem gewissen Grad arrogant, aber Delia war schon immer eine sehr eifrige Selbstdarstellerin gewesen. Als sie im Ärztezimmer Kaffee tranken, ließ Delia sich über die Höhepunkte ihres Lebens aus: zwei gutgehende Praxen, einen Aktienhändler als Ehemann, drei Überflieger-Kinder. Sie hatte Sara Bilder von ihnen allen gezeigt, von dieser ihrer perfekten Familie, die aussah wie direkt aus einer Ralph-Lauren-Werbung.
    Sara hatte Delia nichts von ihrem Leben nach dem Studium erzählt, dass sie ins Grant County, in ihr Zuhause, zurückgekehrt war und sich um Kinder in ländlichen Gegenden kümmerte. Sie erzählte Delia nichts von Jeffrey oder warum sie nach Atlanta zurückgekehrt war oder warum sie im Grady arbeitete, obwohl sie doch eine eigene Praxis eröffnen und so etwas wie ein normales Leben führen könnte. Sara hatte einfach nur die Achseln gezuckt und gesagt: » Ich bin hier gelandet«, und Delia hatte sie enttäuscht und zugleich selbstgerecht angeschaut, beide Regungen wohl ausgelöst von der Tatsache, dass Sara in ihrer ganzen Zeit an der Emory University immer besser gewesen war als Delia.
    Sara steckte die Hände in die Taschen und zog ihren dünnen Mantel gegen die Kälte zusammen. Den Brief spürte sie an ihrem Handrücken, als sie an der Laderampe vorbeiging. Heute Morgen hatte sie sich bereit erklärt, eine Zusatzschicht zu übernehmen, und hatte volle sechzehn Stunden durchgearbeitet, damit sie morgen den ganzen Tag freinehmen konnte. Die Erschöpfung traf sie nun so heftig wie die kühle Nachtluft, und sie stand mit den Fäusten in den Taschen einfach nur da und genoss die relativ saubere Luft in ihren Lungen. Durch den Abgasgestank und die Gerüche, die aus dem Müllcontainer kamen, roch sie eine Andeutung von Regen. Vielleicht konnte sie heute Nacht schlafen. Wenn es regnete, schlief sie immer besser.
    Sie schaute hinunter auf die Autos auf der Interstate. Die Stoßzeit ging eben zu Ende – Männer und Frauen, die heimkehrten zu ihren Familien, zu ihrem Privatleben. Sara stand an der Grady Curve, wie dieses Stück genannt wurde, eine Biegung in der Autobahn, die Verkehrsreporter als Aussichtspunkt benutzten, wenn sie über Probleme auf der Hauptader in die Innenstadt berichteten. Alle Rücklichter leuchteten tiefrot, als ein Abschleppwagen einen liegengebliebenen Geländewagen vom linken Bankett zog. Streifenwagen blockierten den Schauplatz, blaue
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