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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke
Autoren: Stefan Albus
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gibt, denen es etwas ausmacht, mich auf dem falschen Weg zu sehen! Und dann auch noch solche, denen ich unter normalen Umständen nicht mal einen gebrauchten VW-Käfer-Rückspiegel abgekauft hätte …
    Oft liegt das Ziel nicht am Ende des Wegs, sondern an seinem Rand.
    Menschen, Eiswagen, Hunde, Radfahrer – und jetzt auch ein Pilger: Auf dieser Seite der Ruhr ist wirklich eine Menge los. Ich gehe gerade 500 Meter, als ich von einem jungen Mann eingeholt werde. Wo ich hin will? Ich nenne ihm mein Fernziel: Trier. Treffer: »Eine der schönsten Städte Deutschlands! Und da gehst du zu Fuß hin?« Ich kriege raus, dass der Typ als Student mal eine Weile da unten gelebt hat und inzwischen eine Art Biochemiker ist. Sowas: Da schindet man sich tagelang, um dem Alltag eine Nase zu drehen, und einer der ersten, mit dem man etwas ernsthafter ins Gespräch kommt, ist ein Kollege! Egal: Wir quatschen eine Weile übers Wandern und darüber, wie toll er es findet, dass sich mal jemand Zeit nimmt für so eine Reise und über die verrückte, schnelle Zeit, die einem den Blick für die wesentlichen Dinge des Lebens verstellt, dann muss er weiter, er hat es eilig.
    Ich nicht mehr so. Aus gutem Grund: Es ist kühl geworden; kurz vor Herdecke sind meine Füße aus
reinem Plutonium, mein Rücken fühlt sich an, als hätte mir jemand eine tiefgefrorene Leiche darauf gebunden. Und: Ich habe getrödelt! Statt der geplanten fünf habe ich acht Stunden auf der Piste verbracht. Zum Glück finde ich heraus, dass das nächste Bett ganz in der Nähe steht: In einem sogenannten »Mini-Hotel«, gleich am Ortseingang. Vor Ort entpuppt sich das Etablissement als winziges Fachwerkhaus, kaum größer als die Geräteschuppen, in denen Leute anderswo Spaten und Rasenmäher aufbewahren. Ich soll am Haus gegenüber klopfen; davor finde ich eine schmale, weiße Bank, widerstehe aber der Versuchung, mich hinzusetzen – keine Ahnung, ob ich je wieder aufstehen könnte. Nach ein paar Minuten schaut eine alte Dame aus dem Fenster über mir. »Ist das für einen Pilger?« Einen Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. So hat mich bisher noch niemand genannt. Irgendwie ist es mir etwas peinlich, so angesprochen zu werden, aber es ist unbestreitbar: bin ja einer. »Warten Sie, ich komme runter.« »He, aber, Moment, was soll das denn kosten?« »Das Zimmer ist umsonst. Aber das Frühstück müssen Sie bezahlen. Fünf Euro.«
    Als die Dame zum »Hotel« rüberwuselt, habe ich Mühe, ihr zu folgen: Ich komme mir mit meinem Rucksack plötzlich vor wie ein Brontosaurier, der weiß, dass er heute Abend noch aussterben muss. Das Hotel ist allerdings nicht der richtige Platz dafür: Es ist ultraniedlich. Im Erdgeschoss ein Aufenthaltsraum mit locker implantierter Küche, darüber, über eine winzige Wendeltreppe zu erreichen – in der ich mit meinem Rucksack zwei mal stecken bleibe – , zwei Zimmer und ein Etagenbad, das so sauber aussieht wie aus einem Sanitärkatalog. Der Boden meines Zimmerchens knarzt, in der Ecke steht ein alter Schrank, aus dem jeden Augenblick ein lustiges
Gespenst wehen könnte; mein Bett ist älter als ich, da sind garantiert schon etliche Leute drin gestorben. Aber die Decke ist bauschig wie die Plümos, die man in Kinderwagen stopft. Ich lehne meinen Rucksack vorsichtig an die Wand und erfahre, dass das Mini-Hotel seit Kurzem so etwas wie die offizielle Pilgerstation in Herdecke ist; Stempel gibt’s auch bei ihr, sagt meine Gastgeberin. Erst gestern seien drei Pilger da gewesen, Großeltern mit Enkel, total fertig, der Mann hätte zwei Unterschenkelprothesen, sie wären 28 Kilometer gelaufen. Mann: Dagegen habe ich heute einen Wellnessurlaub gehabt! Ich reiche der Dame meinen Pass; sie lässt sich viel Zeit, den Stempel möglichst schön hineinzubekommen. Als sie sieht, dass ihr Werk gelungen ist, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Plötzlich sieht man, wo die ganzen Falten herkommen: Sie greifen auf den Wangen ineinander wie Hände, die sich guten Tag sagen. »Wissen Sie, ich bin jetzt 85. Wenn man schon nicht mehr wandern kann, muss man eben einen anderen Beitrag leisten«, sagt die Lady.

    Bevor ich mich in mein Bett haue, streife ich noch durch Herdecke, wobei ich die Besucher eines italienischen Restaurants mit meinem etwas rustikalen Outdoor-Outfit und
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