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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke
Autoren: Stefan Albus
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Lieblingsjeans, lehne meinen Pilgerstab vorsichtig an den Tisch und bestelle Waffeln mit Sahne und einen Cappuccino. Was für eine Lust, darauf zu warten! Mit stiller Freude lese ich zudem in meinem Pilgerführer, dass der Weg von nun an weitgehend den Höhenlinien folgen soll! Hurra! Waffel essen, weiter! Vor dem Laden sonnt sich meine Kellnerin an einem kleinen Tischchen, auf den kaum ein Aschenbecher passt; sie blinzelt und lächelt mich an, als ich ihr das Geld hinlege.
    Hinter Haspe deckt sich die aktuelle Trasse wieder ein kurzes Stück mit dem historischen Wegverlauf. Ich bin also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit genau
auf dem Pfad, den Tausende von Pilgern vor mir unter ihren Wanderstab genommen haben. Der Aufstieg dahin ist allerdings ganz schön knackig; endlich hochgeschraubt, bin ich nass wie Froschlaich und leere eine Eineinhalb-Liter-Flasche Mineralwasser fast in einem Zug. Auch danach: von wegen »weitgehend entlang der Höhenlinien«! Hier geht es auf und ab! Mein Weg führt über eine Reihe von Bergen, die nebeneinander liegen wie schlafende Hunde und alle die Namen von Köpfen tragen: Bredder Kopf , Poeter Kopf , Brahms Kopf . Dazwischen geht es immer wieder runter ins Tal. Der »wahre« Jakobsweg läuft längst wieder ein kleines Stück weiter oben. O. K.: Auf diese Weise bleiben mir wenigstens ein paar Höhenmeter erspart; trotzdem möchte ich wissen, was die Leute früher dahin verschlagen hat! Spätestens am Hageböllinger Kopf bin ich schlapp wie ein schlecht gelagerter Fahrradreifen – dabei habe ich da noch den Mühler Kopf und zwei weitere Täler vor mir! Irgendwo finde ich vier Gartenstühle, die jemand über ein paar Bretter miteinander verschraubt hat. Wanderer nimm dir Zeit steht da drauf. Das mach’ ich natürlich gerne! Ein Mülleimer steht leider nicht in der Nähe. Das ist blöd, weil ich seit der letzten Pause die geleerte Wasserflasche mit mir herumschleppe. Na super: Andere Wanderer suchen verzweifelt nach Wasser, ich dagegen nach einem Papierkorb, um endlich dieses doofe Stück Polyethylenterephthalat loszuwerden. Ich bekomme eine düstere Ahnung von dem Bild, das sich dieser junge Engländer in Dortmund wahrscheinlich von mir machen würde …
    He, allmählich wird’s jetzt aber wirklich hart. Das viele Auf und Ab zermürbt mich. Der Rucksack drückt, mein Rücken ist völlig vernagelt, ich kann den Kopf kaum noch drehen, irgendjemand hat mir Sand zwischen die Wirbel gestreut. Ich hake nur noch Kilometer
ab. Nur vorwärts, vorwärts, irgendwie. Dann, endlich: Häuser, eine Landstraße, Bürgersteige. Blöd nur: Gevelsberg ist lang wie eine tote Anaconda und offenbar überwiegend von finster dreinblickenden Gestalten bevölkert. Zwei dicke Kinder fragen mich, was ich da mache, aber ich habe keine Kraft zu antworten. Mit der Tanknadel im roten Bereich lasse ich mich auf eine Bank in der Nähe der Post fallen wie ein welkes Blatt. Im Adressteil des Pilgerführers finde ich tatsächlich eine Pilgerherberge – Hurra! Allerdings liegt die – am Hageböllinger Kopf ! Raaaah! Ich hätte vor vier Kilometern einfach nur rechts statt geradeaus gehen müssen!
    Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich im Himmelreich. Danke, Jakobsweg!
    Und jetzt? Meine Füße brennen wie Schweröl. Meine Schultern sind schon längst nicht mehr aus Eiche, sondern aus Presspappe: Zeit für Plan B! Den Notfallplan. Ich werde mir die Stelle für die Fortsetzung der Reise morgen merken und mir ein Taxi zur Pilgerherberge nehmen! »Geh zum Bahnhof«, sage ich mir, da stehen garantiert welche. Schlechte Idee: Der Gevelsberger Hauptbahnhof ist etwa so groß wie eine S-Bahn-Haltestelle in Bottrop-Süd. O. K.: Es gibt einen Taxistand. Aber der ist so leer wie der Raum zwischen Erde und Mond. Ich werde hier sterben. Oder? Ich zücke meinen GPS-Empfänger. Das nächste Hotel liegt unendlich weite 500 Meter von hier. Ich beschließe, es zu nehmen, egal, was es kostet. Immerhin spare ich das Taxi.
    Die Alte Redaktion wirkt von außen tatsächlich so unscheinbar wie eine Vorort-Druckerei. Aber wenn Betten drinstehen, könnte sie meinetwegen aussehen wie eine Karstadt-Filiale. »Sind Sie Pilger?« »Würde ich sagen.« Ich klopfe mit dem Wanderstab auf den Boden. Den Hut lasse ich auf, weil ich darunter garantiert aussehe wie ein eingeschäumter
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