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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke
Autoren: Stefan Albus
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ist, dass ich meinen Kopf dabeihabe, denn mit dem will ich mich auseinandersetzen.
Hohensyburg! Laut Reiseführer könnte ich hier abbrechen, wenn ich ein Bett finde, aber ich denke nicht dran! Jetzt will ich erst recht sehen, wie weit ich heute noch komme! Ich entdecke ein Café, das ich vor Jahren mal besucht hatte. Damals habe ich dafür eine Stunde im Auto gesessen! Meine Füße brennen wie Magnesiumfackeln, aber das Verhältnis eine Autostunde = zwei Tage zu Fuß imponiert mir! Von der nahe gelegenen Burgruine – der ehemaligen »Sigiburg« – steht nicht mehr viel … Aber ich kenne ich das Ding ohnehin so gut wie das Wartezimmer meiner Ärztin und stiefele mehr aus Pflichterfüllung noch einmal durch die Anlage. Viel spannender finde ich die Aussicht ins Tal vom nahe gelegenen Kaiserdenkmal aus: Die Leute unten sind klein wie Schweinegrippeviren, die Gegend sieht aus wie ein weiches Kissen, auch die Ruhr gibt ihr Bestes in der Disziplin »Schimmern im Nachmittagslicht«. Auf einer Mauer zwischen Ruine und Bismarckturm treffe ich ein sehr entspanntes junges Pärchen. Der Typ fragt mich, ob ich »wandere« – und spricht das Wort so aus, als meine er »auf Händen gehen«, »Fernseher aus dem Fenster schmeißen« oder »cooler als Jake Blues sein«, und schaut seiner Freundin lange in die Augen, als ich weitergehe. Ich muss runter an die Ruhr – auf einem malerischen Pfad mit eingebautem Bergbauwanderweg, der sich in engen Serpentinen abwärts windet. Ich mache alle paar Dutzend Meter Pause, um die Aussicht zu genießen – und um meine Knie zu beruhigen, die auf das plötzliche Bergab nach gefühlten 100.000 Kilometern bergauf zuvor etwas spröde reagieren.
    Unten biege ich in einen Weg ein, der mich auf der nördlichen Seite des Hengsteysees – einer Art Aussackung des Flusses – nach Herdecke bringen soll. Sehr weit komme ich allerdings nicht: Schon nach ein paar
Hundert Metern spricht mich ein Mann offenbar italienischer Provenienz an, der es sich mit zwei Kumpels auf einer Bank bequem gemacht hat. Für gewöhnlich sagt man den Leuten zwischen Mailand und Neapel ja nach, dass sie es verstehen, sich exquisit zu kleiden – auf diesen Herrn trifft das allerdings nicht auf den ersten Blick zu. Er trägt ein oranges T-Shirt, eine lila, arg sackige Jogginghose und eine tiefschwarze, mit den Jahren im Stirnbereich leicht gelichtete, aber kunstvoll gekämmte Thomas-Anders-Matte. Seine beiden Kollegen würden in jedem Mafia-Film als Leibwächter durchgehen – weshalb ich mir eigentlich vorgenommen hatte, ihre Bank mit stur nach vorne gerichtetem Blick so schnell wie möglich zu passieren, habe aber keinen Erfolg mit meiner Strategie. »Ey, willsse du weiter gehe?«
    Das Trio mustert mich und meinen Rucksack, als wollten die drei abschätzen, ob ich auch nur eine einzige Stunde als Packer am Duisburger Hafen überleben würde. Ui! Ich habe mal gelesen, dass man Fremden auf keinen Fall sein Ziel nennen soll! Jetzt bloß nix falsch machen! »Oh, isse schwer jetzt. Weg isse nach eine Kilometere gesperrte. Kannsse du nixe durch«, sagt Thomas Anders und schüttelt seine Mähne. Ich habe Angst, in einer Wolke mikroskopisch kleiner Öltröpfchen zu stehen. »Sicher. Kannsse du den Hang rauf und obe gehe. Habe wir auche so gemacht. Aber mit deine Last isse vielleicht schwer .« Er schaut mich an wie einen Ferrari mit Reifenschaden. Ich bleibe eine Weile stehen und weiß nicht recht, was ich sagen soll. »Entschuldigung. Ische sage nur«, sagt der Mähnenmann und hebt die Schultern wie ein Chefarzt, dem eben ein 120-Jähriger auf dem Weg in den OP gestorben ist. Ich überlege, ob ich gekränkt sein soll, schließlich habe ich mich mit dem Ding auf dem Rücken heute schon zur Hohensyburg geschleppt, die jetzt klein wie ein Streichholzmännchen
auf dem Bergrücken hinter mir liegt. Andererseits … »Eh, gehsse du rüber, andere Seite. Aber ich sage nur. Musse du wisse. Entschuldigung.« Entschuldigung ? Jetzt erst fällt mir auf, wie leer gefegt der Weg vor mir ist – während sich drüben, auf der anderen Seite der Ruhr, Menschenmassen wie bei einer Media-Markt-Eröffnung entlangschieben … Was war ich für ein Idiot! Die schrägen Jungs haben mir einen Riesen-Umweg erspart! Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass es Menschen
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