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Santiago liegt gleich um die Ecke

Santiago liegt gleich um die Ecke

Titel: Santiago liegt gleich um die Ecke
Autoren: Stefan Albus
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Jugendherberge hat etwas von einem Seminarraum: Alles ist abwaschbar, die Stühle würden in jeder Unimensa eine gute Figur machen. An einer Wand steht »Deo Gratias« – ein Kreuz sehe ich seltsamerweise nirgendwo, stattdessen eine Leine, an der die halbe Welt in Form von Papierflaggen aufgehängt ist. Am Nachbartisch nimmt dann auch prompt eine Handvoll junger Briten Platz, zu erkennen an einem Dialekt, der so wenig an Englisch erinnert, wie es sich nur Einwohner von Manchester, Brighton, Bristol oder einiger wirklich finsterer Ecken Londons leisten können. Einer der jungen Leute, vielleicht 14 Jahre alt, fällt zudem durch einen selbst für Insel-Verhältnisse extravaganten Kleidungsstil auf: Mit schwarzer Hose, lila Hemd,
grünem Gürtel und bleistiftschmaler schwarzer Krawatte ist er Kandidat Nummer eins für jeden Gary-Numan -Revival-Contest – er sieht aus, als wäre er vorhin nicht aufgestanden, sondern von einer Konzertbühne gestiegen und trägt die ganze Subkultur seiner Insel mit sich herum, denke ich: John Lennon, Elton John oder Howard Jones und all die anderen, und frage mich, was ich alles mit mir herumschleppe. Plötzlich habe ich es ganz eilig, meinen Rucksack zu packen. Ich brauche nur wenige Minuten, dann liegt mein Rückenkoffer fertig verschnürt vor mir. Ein Meisterwerk! Seltsam nur: Der Reißverschluss gleitet zu wie der ICE Köln-Frankfurt. Außerdem kommt mir das Ding auch leichter vor als bei meiner Ankunft am Vortag. Weniger Zahnpasta vielleicht? Unmöglich – und trotzdem richtig: Kulturbeutel vergessen! Nachdem ich das Ding dazugestopft habe, sieht der Rucksack wieder aus wie Reiner Calmund in einem Superman-Dress. Egal – los geht’s! Mein erster Tag auf dem Jakobsweg!
    Das Licht, das von draußen hereinscheint, ist weiß wie im Zentrum einer Nuklearexplosion. Die Luft riecht frisch wie Weichspüler – könnte ein warmer Tag werden heute! Laut Pilgerführer habe ich einiges vor: als besonders irritierend empfinde ich die vielen Höhenlinien auf der Karte. Egal: Zunächst darf ich sowieso erst einmal an Bürokomplexen entlang wandern und die A40 überqueren; es wird eine Weile dauern, bis ich allmählich Häuser erreiche, in denen die Menschen angenehmere Dinge tun, als Akten zu wälzen und sich in Konferenzen anzuöden. Immerhin: In der Nähe der Westfalenhallen stehe ich unvermittelt vor einem steinernen Turm, der als Teil der Befestigungsanlage um die Stadt einmal die Handelsstraße nach Köln unter seinen Fittichen hatte. Das Ding ist von einer kleinen Mauer umgeben, die wie
gemacht ist für eine kleine Pause! Ich setze meinen Rucksack ab und habe ganz kurz das Gefühl zu fliegen; wenige Sekunden später weicht dieser Eindruck allerdings der Befürchtung, beim nächsten Schritt vornüberzufallen. Egal – weiter! Irgendwann darauf wird es richtig grün. Im Rombergpark, einem ausgedehnten Botanischen Garten voller vor Blüten brennender Bäume, kommt mir eine alte Dame entgegen. »Wandern für mein Leben gern«, sagt sie im Vorbeiflattern, und ich verstehe nicht richtig, ob sie diesen Satz mit einem Frage- oder Ausrufungszeichen versieht. Egal, vielleicht beides: Ich jedenfalls komme gut voran. Nur mein Nacken beginnt allmählich wieder, sich in Eichenholz zu verwandeln.
    Wichtig ist, dass ich meinen Kopf dabeihabe, denn mit dem will ich mich auseinandersetzen.
    Gegen Mittag mache ich in einem Dortmunder Vorort neben einer großen »1994« aus Bronze Rast. Die Skulptur sieht aus, als hätte sie sich auch eben erst hier hingesetzt; als ich ein gutes Stück dahinter den Abzweig nicht direkt finde, winkt mir ein Handwerker zu und zeigt mir mit einem Schraubenzieher in der Hand den richtigen Pfad. O. K.: Auf dem Original-Jakobsweg bin ich schon seit ein paar Kilometern nicht mehr. Das liegt daran, dass viele der alten Pilger-Originaltrassen über die Jahrhunderte zu viel befahrenen Straßen geworden sind, an denen man nicht einmal Abgas-Junkies entlangschicken möchte. Die aktuelle Trasse windet sich daher wie Efeu um den alten Weg herum, um ihn dann später ein Stück weit im Westen liegen zu lassen wie eine abgelegte Schlangenhaut. Mir macht das nichts: Ich glaube eh nicht an so etwas wie die »Magie« alter Straßen. Einen Eindruck vom Pilgerleben bekomme ich auch, wenn ich an einer anderen Stelle durch den Wald streife! Wichtig
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