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Sanfter Mond über Usambara

Sanfter Mond über Usambara

Titel: Sanfter Mond über Usambara
Autoren: L Bach
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plötzlich bohrte sich ein wohlbekanntes metallisches Kreischen in Charlottes ohnehin schmerzenden Schädel. Der Zug bremste und drückte Mutter und Tochter in den Sitz, um sie dann, als der Zug zum Stillstand gekommen war, mit einem Ruck wieder nach vorne zu schleudern.
    » Leeeeeeer! Vorsicht an der Bahnsteigkante! Der Zug hat zehn Minuten Aufenthalt. Leeeeer! Vorsicht an der Bahnsteigkante. Der Zug hat… «
    » Wir sind da, Elisabeth. Komm rasch! «
    Charlotte schob das Zugfenster herunter und versuchte, in den grauen Dampfschwaden, die draußen vorüberzogen, etwas zu erkennen. Das Bahnhofsgebäude! Mein Gott, es schaute noch ebenso düster aus wie vor zehn Jahren, als sie hier mit Christian und Klara im Morgengrauen in den Zug gestiegen war, um die Stadt in aller Heimlichkeit zu verlassen. Auf der Flucht vor Christians Schulden und mit der Hoffnung im Herzen, in der Fremde einen glücklichen, neuen Anfang zu finden.
    » Charlotte! Charlotte! Himmel, sie ist es! Schieb die Karre dort hinüber, Henrich! Nun mach schon, Junge, ja seid ihr denn alle blind? Dort am Fenster stehen sie doch. Charlotte! «
    Die Stimme war Charlotte wohlbekannt, die füllige Person im hellblauen Kleid und mit dem weißen Hütchen wollte jedoch wenig zu ihren Erinnerungen passen.
    » Die dicke Frau dort, die mit den Armen wedelt– gehört die etwa zu unserer Familie, Mama? «
    » Das ist deine Tante Ettje! «
    Charlotte winkte der stämmigen Gestalt zu, bei der es sich ganz offensichtlich um ihre ehemals so schmale Cousine Ettje handelte, dann fasste sie hastig ihre Reisetasche und wies Elisabeth an, ihren Beutel und den Schirm zu nehmen. Beide eilten sie zum Ausstieg, wo ein Dienstmann bereits ihren großen Reisekoffer aus dem Zug auf die von Ettje mitgebrachte Schubkarre hob.
    » Ach, Charlotte! Du schaust noch genauso aus wie damals! Wie hübsch du bist! Wie fein angezogen! Und dieses Hütchen– so was findet man in ganz Leer nicht… «
    Es musste in der Familie liegen, dieses übereifrige Geschwätz, wenn man sich nach langer Zeit wiedersah, auch Cousine Klara, die sonst so schweigsam war, redete bei solchen Gelegenheiten ohne Punkt und Komma. Charlotte fand sich an Ettjes üppiger Brust wieder, atmete den Geruch ihrer Kindheit ein, als die Kleider immer ein wenig nach feuchtem Moder, Küchendünsten und Mottenpulver gerochen hatten, und war tief gerührt über Ettjes ehrliche Wiedersehensfreude.
    » Ich bin ein bisschen aus dem Leim gegangen, wie du siehst « , schwatzte Ettje, während sie die Cousine immer noch an sich drückte. » Das fing an, als Peter vor einigen Jahren so krank wurde, und jetzt will der Speck nicht mehr von meinen Hüften runter… «
    » Du bist nur ein wenig runder als damals, aber sonst hast du dich nicht verändert, Ettje. Vergiss nicht, dass du drei hübsche, kräftige Jungen in die Welt gesetzt hast… «
    » Und du eine bezaubernde kleine Tochter. O mein Gott, das Kind schaut aus wie eine Ostfriesin, so blond, und die Augen sind die von unserem Großvater, da gibt es gar keinen Zweifel… «
    Elisabeth blinzelte noch verschlafen auf ihre drei Cousins, die sich an Taschen und Koffern zu schaffen machten, dann wurde sie unversehens an Ettjes Busen gepresst, die ihr mit rauer Hand durch das lockige Haar strich.
    Der Weg zur Ulrichstraße war nicht weit und die Nachmittagssonne warm, also gingen sie die Strecke zu Fuß. Es hatte sich nicht viel veränderte, seit sie Leer verlassen hatte, dachte Charlotte. Hie und da war ein neues Haus zu sehen, das Hafenbecken war tideunabhängig ausgebaut worden, und die hässlichen braunen Handelsbaracken auf der Nesse inmitten der Ledaschleife waren mehr geworden. Immer wieder musste sie Ettje anschauen, die schwergewichtig neben ihr herstampfte. Die Cousine war jetzt vierzig Jahre alt, vier Jahre älter als sie selbst, und doch kam es Charlotte vor, als läge eine ganze Generation zwischen ihnen. Ettje war niemals hübsch oder elegant gewesen, auch jetzt störte sie sich nicht an ihrer Körperfülle, die sie älter und unvorteilhaft aussehen ließ. Cousine Ettje war stolze Mutter dreier Knaben und treu sorgende Ehefrau des früheren Nachbarsburschen Peter Hansen, seines Zeichens Beamter beim Zollamt– damit hatte sie ihre Bestimmung gefunden, mehr erwartete sie nicht vom Leben. Die Sehnsucht, die Charlotte von Kind an in die Ferne gezogen hatte, die verzehrende Liebe zu einem für sie unerreichbaren Mann, die Träume, die Hoffnungen, die Erfüllung in der Musik–
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