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Salve Papa

Salve Papa

Titel: Salve Papa
Autoren: Wladimir Kaminer
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besuchten regelmäßig die Töpferei. Aus diesem vierjährigen Studium entstanden mindestens zwanzig schrullige Lehmaschenbecher, von Nicole eigenhändig getöpfert, die auf sämtlichen Regalen unserer Wohnung herumstehen. Sie erinnern daran, dass die Schule in Deutschland keine Wissensschmiede, sondern eine soziale Einrichtung ist, die Kindern beibringt, sich in einer Gruppe unterschiedlicher Individuen zurechtzufinden.
    Dagegen ist nichts zu sagen. Natürlich ist lesen und schreiben einfacher zu lernen als Konflikte zu lösen. Von einem Gymnasium erhoffte ich mir trotzdem eine Bildungssteigerung, einen Schutz vor grassierender Frühverblödung. Außerdem wollte ich zusammen mit meiner Tochter Latein lernen. Mich störte auch nicht, dass der Lateinlehrer sächselte.
    Nicole verstand das Gymnasium als eine Art Beförderung und kam sich unglaublich wichtig vor. Sie konnte vor Stolz kaum laufen. »Salve, Papa, salve, Nicole« – gleich am ersten Tag hatten wir das gelernt. Nach einer Woche wollte ich endlich ein zweites Wort Latein hören. Es war an der Zeit zu erfahren, was zum Beispiel »tschüs« auf Latein hieß. Dazu kamen wir aber nicht, denn die fünfte Klasse blieb fest in der Projektwoche zum Thema »Antimobbing« stecken. Zweifellos ein wichtiges Thema, wie ich aus erster Hand wusste. Ich bin oft genug von Familienangehörigen und Freunden gemobbt worden, wenn ich Gitarre spielte oder Englisch redete. Deswegen beschloss ich, mindestens an einem Antimobbing-Projekttag teilzunehmen.
    Am ersten Tag wurden Postkarten mit Sprüchen und Zeichnungen verteilt, wobei jedes Kind zu seiner Karte etwas erzählen sollte: »Ich habe diese Karte genommen, weil sie grün ist und das meine Lieblingsfarbe ist.«
    So ein Schwachsinn. Ich hatte eine Postkarte mit einem Zwanzig-Euro-Gutschein drauf genommen, konnte aber nicht erklären, warum ich sie ausgewählt hatte. Es war eine unbewusste Entscheidung gewesen.
    Am nächsten Tag musste einer alle anderen in der Klasse fragen, ob er/sie mit ihm ins Kino gehen wolle – und alle sagten Nein. Anschließend wurde das Opfer befragt: »Was ist das für ein Gefühl, ausgeschlossen zu sein?« Am dritten Tag wurde zu therapeutischen Zwecken jemand ausgelacht, wobei ihn beim ersten Mal ein anderer in Schutz nehmen durfte und beim zweiten Mal nicht. Anschließend erzählte der Ausgelachte, was das für ein Gefühl war. Danach haben sie Verlässlichkeit gelernt. Die Kinder sind dazu im Jugendzentrum die Wand hochgeklettert, wobei einer das Sicherungsseil des anderen halten musste. Wenn dennoch jemand herunterfiel, erzählte er anschließend, was das für ein Gefühl war.
    Bald sind Herbstferien, und ich habe bei diesem Gymnasium ein mulmiges Gefühl. Ich denke, dass wir noch lange brauchen werden, um zu erfahren, was »tschüs« auf Latein heißt. Doch Zeit genug wäre da, noch sieben Jahre! Bis es so weit ist, festigen wir das bereits Erlernte jeden Morgen um sieben Uhr früh: »Salve, Papa!«
    »Salve, Nicole!«
     

Tschüs auf Latein
    Seit einiger Zeit besucht meine Tochter das Gymnasium mit »vertieftem Lateinkurs«. Sie hat trotzdem noch nicht herausgefunden, was »tschüs« auf Latein heißt. Vielleicht gibt es auf Latein gar kein »tschüs«? Wir zweifeln inzwischen alle. Immerhin war Latein die Mutter aller Sprachen. Wenn es auf Latein kein »tschüs« gibt, dürfte es eigentlich auch in anderen Sprachen keines geben. Meine private Verschwörungstheorie diesbezüglich lautet, dass »tschüs« auf Latein »tschüs« heißt.
    Vor langer Zeit, als es noch gar keine kultivierten Sprachen gab und die Menschen nur in komischen Dialekten miteinander kommunizierten, verliefen sich die Spanier auf ihrer Weltentdeckungsreise und entdeckten statt Indien Lateinamerika. Die Lateinamerikaner waren über diese neue Bekanntschaft gar nicht erfreut. Sie wollten eigentlich erst viel später entdeckt werden und baten die Spanier, auf der Stelle abzuhauen. Dazu schnitten sie Grimassen und schrien: »Tschüs, tschüs!«, was so viel wie »Haut bloß ab!« bedeutete. Die Spanier konnten nur Spanisch, das sich aus dem Latein entwickelt hatte, und blieben.
    Die Lateinamerikaner waren mit ihrem Latein am Ende, sie kriegten die Spanier nicht mehr los. Sie hatten keine modernen Waffen, keine Kanonen auf Rädern, nicht einmal Schießpulver. Die Lateinamerikaner wurden später von Archäologen gehänselt, dass sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, das Rad zu erfinden, während der Rest der Welt
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