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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition)
Autoren: Tom Robbins
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gelassen in der Gewissheit um ihre uralte Lebenskraft, schienen den fundiertesten eschatologischen Überzeugungen zu trotzen. Hier dagegen wuchsen die Bäume verkrüppelt, trist und spärlich. Die Straße, ein klares und schnurgerades Band, entrollte sich vor dem Truthahn, wand sich hinter ihm wieder auf und nahm seine Passagiere mit einem einschläfernden, leblosen Rhythmus in Beschlag, von dem die körnige gelbbraune Schichttorte zu beiden Seiten kaum Erleichterung versprach. Die Kuhflecken in der Ferne, Rosinen im schmelzenden Zuckerguss, übertrafen die Weidenkätzchen an Zahl, und tatsächlich schien alles wie von einem gigantischen Hufabdruck geprägt.
    In einem Land wie diesem erwartete Ellen Cherry immer, im nächsten Moment die goldene Uhr losschrillen zu hören. Die Uhr mit dem Wecker, der nach Feuersbrunst und Flügelhörnern klang. Gefolgt von Orson Welles, der aus dem
Totenbuch
rezitierte. «Wär ja wieder typisch», sagte sie, «wenn das Jüngste Gericht käme, und wir hocken hier draußen am Arsch der Welt, meilenweit vom nächsten Telefon.»
    Boomer gab keine Antwort. Er konzentrierte sich auf einen entgegenkommenden Viehtransporter. Als er näher kam, bremste der Laster plötzlich ab und fing an zu schlingern. Um ein Haar hätte er sie gerammt, als sie an ihm vorbeifuhren. Der Fahrer hängte den Kopf aus dem Fenster und glotzte. Boomer scherte aus und drückte auf die Hupe.
    «Blöder Cowboy», schimpfte er. «Hätte uns fast ein Bein ausgerissen.»
    I & I

Colonial Pines war ein Vorort ohne Ort. Mit zweiundzwanzig Meilen lag es zu weit von Richmond entfernt, um wirklich dessen Anhängsel zu sein, doch fehlte ihm die Autonomie einer selbständigen Stadt. Es konnte sich keiner nennenswerten Industrie rühmen; andererseits wurden in der unmittelbaren Umgebung jede Menge ausgezeichnete Tomaten angebaut, ohne dass man Colonial Pines deshalb als landwirtschaftliches Zentrum hätte bezeichnen können. Merkwürdigerweise hatte es nicht einmal ein Zentrum. Was man in Colonial Pines als Einkaufsviertel bezeichnete, war ein vierspuriger Highway, der trotz der Schnellstraße, die den Verkehr heutzutage weiträumig an der Stadt vorbeileitete, noch immer Tausende von Yankee-Touristen nach Florida und zurück führte. In Colonial Pines reihten sich auf diesem Highway über eine Strecke von drei Meilen unzählige Motels, Tankstellen und Restaurants Nase an Nase – dabei war
Restaurants
vielleicht eine etwas hochgegriffene Bezeichnung für die Imbissstuben, Eisdielen, Fernfahrerkneipen und sogenannten «familienfreundlichen» Gaststätten (deren fade, beinahe totalitäre Küche unterdrückte Geschmacksknospen garantiert nicht mit neuartigen oder gewagten Kreationen kitzeln würde). Angeblich verdienten die Bewohner dieser Quasi-Stadt ihren Lebensunterhalt auf dem «Strip», wie man diesen Abschnitt nannte (ihn mit dem Strip von Las Vegas zu vergleichen wäre dasselbe wie Marie Osmond auf eine Stufe mit Mae West zu stellen), doch zugleich lag die Vermutung nahe, dass sie auch von den Erlösen aus Verfahren gegen Temposünder profitierten: Der Ruf der Radarfalle in Colonial Pines reichte von Boston bis Miami.
    Wie sich eine Gemeinde von neunzehntausend ausschließlich weißen Angehörigen der unteren Mittelschicht hier halten konnte, wie sie ihre grünen Fensterläden, elektrischen Rasenmäher und allgegenwärtigen amerikanischen Flaggen bezahlte, ist eine Frage, die einem Demographen einen unnötigen Monat Arbeit beschert hätte, uns aber Gott sei Dank nicht beschäftigt. Uns genügt es zu wissen, dass Ellen Cherry Charles in Colonial Pines, Virginia, geboren wurde und hier aufwuchs, dass sie es vom ersten Tag an hasste und schon als kleines Mädchen Pläne schmiedete, dem Dunstkreis der ewigen Langeweile zu entfliehen, der sie zu ersticken drohte. Schließlich machte sie sich tatsächlich aus dem Staub, und es kostete sie einige Mühe. Doch die Tentakel der Heimat sind ebenso zäh wie unsichtbar, und dass Ellen Cherry noch beweisen musste, dass sie sich endgültig aus ihren Umschlingungen befreit hatte, zeigte sich in den allwöchentlichen Telefonaten mit dem Elternhaus. Eins davon fand an diesem Märztag statt.
    «Hi.»
    «Liebling!», rief Patsy. «Schön, deine Stimme zu hören. Bleib ’nen Augenblick dran, ich muss mir schnell was überziehen, bevor wir reden. Du hast mich im falschen Augenblick erwischt – ich bin grade so nackig, wie Gott mich erschaffen hat.»
    «Nackig oder nackt, Mami?»
    «Wo zum
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