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Salomes siebter Schleier (German Edition)

Salomes siebter Schleier (German Edition)

Titel: Salomes siebter Schleier (German Edition)
Autoren: Tom Robbins
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. Sie war aufgeregt. Sie lernte, eine Leinwand richtig zu spannen und zu präparieren und einen Lithographiestein einzufärben. Sie entdeckte den postmalerischen Expressionismus und Georgia O’Keeffe. O’Keeffe wurde auf der Stelle zu ihrem Ideal, zu ihrer Heldin und zum Thema eines Aufsatzes, für den Ellen Cherry ihre erste Auszeichnung auf dem College bekam. Mit frischem Eifer besann sie sich auf das Augenspiel aus ihrer Kindheit und entdeckte darin eine Art Mistgabel, mit der sich alles, was Melville einmal als die «Pappmachémaske» der sichtbaren Realität bezeichnet hatte, aufspießen ließ. Sie fing an zu verstehen, was de Kooning gemeint hatte, als er sagte: «Alles, was ich sehe, wird zu meiner Form und meiner Bedingung.»
    An den Wochenenden fuhr sie per Greyhound nach Colonial Pines – Daddys Befehl –, wo sie sich weiterhin mit Boomer Petway traf. Bier zu trinken und mit Boomer durch die Motelbetten zu hüpfen erwies sich als entspannender Ausgleich für die Anstrengungen im Klassenzimmer und im Atelier. So lebte sie nun wie die Katze im Brei. Bis etwas passierte, das alle Träume platzen ließ und ihr eine emotionale Verkrüppelung beibrachte, die weitaus schlimmer war als Boomers schwankender Gang.
    In der Gemeinde der Third Baptist Church von Colonial Pines hatte sich das Gerücht verbreitet, dass die Kunststudenten an der VCU gezwungen würden, nackte Körper zu zeichnen. Es wurde gemunkelt, dass sowohl Frauen als auch Männer splitternackt vor gemischtgeschlechtlichen Klassen auf und ab spazierten. Im Großen und Ganzen entsprach das der Wahrheit, nur wurde niemand «gezwungen», am Aktzeichnen teilzunehmen, und die männlichen Modelle posierten ausnahmslos mit Sackhaltern. Jedenfalls beschlossen Reverend Buddy Winkler und Verlin Charles, als die Antwort der Schule auf ihre schriftliche Anfrage sie nicht befriedigte (und Ellen Cherry aus Gründen der Selbstverteidigung die Existenz solcher Klassen rundheraus abgestritten hatte), sich mit eigenen Augen zu überzeugen.
    Buds und Verlins Erstürmung des Klassenzimmers verlief so melodramatisch, dass viele der anwesenden Studenten in brüllendes Gelächter ausbrachen und «Rambo! Rambo!» johlten. Doch Ellen Cherry war das Lachen vergangen. Ihre Proteste nahmen einen hysterischen Tonfall an, als Verlin sie aus dem Raum zerrte. (Buddy Winkler blieb zurück, um den Professor zurechtzustauchen und dem ziemlich verlegenen Modell Gottes Wort zu verkünden.) Schreie, so durchdringend wie Fleischerhaken und so düster wie Sumpfwasser, entrangen sich ihrer Brust, als Verlin anfing, ihre Sachen zu packen.
    Kurz darauf kam Buddy ins Zimmer. Wie von Sinnen griffen die beiden Männer nach trockenen Waschlappen und rieben ihr Lippenstift, Rouge und Lidschatten aus dem Gesicht. Die Prozedur war dermaßen grob, dass sie ihr die Wangen aufschürften. Ihre Lippen sprangen auf wie die Haut einer gebrühten Tomate. Ihre Lider schwollen an, bis sie das Gefühl hatte, ihr Zimmer nur noch durch einen Ascheschleier zu sehen. Es war, als sei sie in einen Feuersturm geraten, der ihren reinsten und sanftesten Teil zerstörte.
    Und währenddessen stießen die Männer immer wieder ein einziges Wort aus.
    «Jezabel», sangen sie.
    «Jezabel!»
    I & I

Jezabel saß mit Ellen Cherry und Boomer in dem großen Truthahn. Wo immer Ellen Cherry hinging, Jezabel kam mit. Wenn Georgia O’Keeffe ihr vorübergehendes Vorbild gewesen war, so entwickelte Jezabel sich zu ihrer ständigen Begleiterin, ihrer Vertrauten, zu einer klaffenden Wunde, zu einem Keramikskelett, das in ihrem Fleisch klapperte. Vom Tag ihrer Erniedrigung an der VCU bis zum gegenwärtigen Augenblick schlug ein Tamburin in ihrem Blut. Es hätte Salomes Tamburin sein können, doch für Ellen Cherry gehörte es zu Jezabel. Gewöhnlich war sein Klang leise, sein Rhythmus weit entfernt: Monate vergingen, in denen sie und ihr unsichtbarer Zwilling sich höchstens einmal im Flur begegneten. Doch kaum begann der Truthahn einen farbenprächtigen Canyon im südöstlichen Idaho zu durchqueren, eine Landschaft, in der der Sandstein lavendelfarbenen Lidschatten und granatapfelroten Lippenbalsam aufgelegt zu haben schien, da verbreitete sich Jezabels verborgener Weihrauch im Inneren des Truthahns wie der Duft einer Füllung, und …
    Aber halt. Jezabel hat so lange gewartet, sie kann auch noch ein bisschen länger ausharren. Zuerst sollten wir uns dem Truthahn selbst zuwenden; seinem Ursprung, seinem Ziel, seiner Raison
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