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Sakramentisch (German Edition)

Sakramentisch (German Edition)

Titel: Sakramentisch (German Edition)
Autoren: Hannsdieter Loy
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Tisch zu
Tisch. Genau wie sie selbst damals in Kindertagen zur Winterzeit. Sie aber
mochte am liebsten den Frühling. Marias Gedanken wanderten für eine Minute
zurück zum Hof ihrer Eltern.
    Vor dem Haus und unter der Veranda blühen riesige
Rhododendronbüsche. Eine Rasenfläche senkt sich abwärts zu dem Feld, auf dem
die Obstbäume in früher Blüte stehen und ein paar Schafe weiden. Ihr Elternhaus
ist wie eine Burg, erbaut aus dem Gestein der Gegend, das über Generationen
hinweg durch Wind, Sonne, Regen und Schnee zu einer undefinierbaren Farbe
zwischen Mausgrau und Maisgelb verwittert wäre, wenn Vater es nicht vor einem
Jahr gestrichen hätte, sodass es nun in frischem Weiß erstrahlt. Der Hof steht
in einer Mulde, den Bergwald im Rücken, über einen Kilometer entfernt von den
anderen Häusern des kleinen Dorfs. Im Erdgeschoss ist eine kleine Holzkapelle
an das Haus angebaut. Abgesehen von drei ausladenden Holzbänken und einem
breiten Steinquader, der einst als Altar diente, ist die Kapelle leer. Manchmal
stellt Maria einen frischen Strauß Blumen auf den Stein.
    Gapperding ist der Name dieses Einödhofs, auf dem Maria Schwarz
aufwächst.
    Es ist Sonntag. Ihr Vater, in ledernen Kniebundhosen, Hosenträgern
und einem warmen Wolljanker um die Schultern, ruft sie vom Balkon aus zurück.
Er hat die Arme auf das geschnitzte Holzgeländer gestützt. »Maria, Maria!« Ihr
Pap ist ein hagerer, knochiger Mann mit verblassendem rotblondem Haar, das der
Wind über der Stirn aufstellt. Er hatte Krebs, und man hat ihm den Magen
herausoperiert. Auch sein Augenlicht hat nachgelassen.
    Das macht sich Maria zunutze, denn sie will hinunter zum Weiher,
kaum hundert Meter vom Haus entfernt. Ihr Gang verändert sich, während sie
durch die flache Mulde abwärtsgeht, an den Schafen vorbei. Sie hat die Strümpfe
ausgezogen, trägt die Schuhe in der Hand und geht barfuß.
    »Maria, Maria!«, hört sie verschwommen. Über die Schulter schaut sie
zurück. Er hat die Hände um den Mund gelegt, aber der Wind verweht sein Rufen.
Ihr Vater, alleinerziehend nach Mams Tod, ist ein aufbrausender, beherrschender
Mann. Doch ihr gegenüber verhält er sich meist sanftmütig und untadelig. Auch
wenn er meint, Herr über ihren Körper und ihre Seele und ihr ganzes Leben zu
sein, als besäße er das Recht, Maria zu verwalten, zu verkaufen oder zu
verschwenden. Er hütet sie wie seine Schafe und sein Vieh.
    Sie lässt sich nicht aufhalten. Der Pap kann sie nicht sehen. Im
Gehen pflückt sie die Gummis von den Zöpfen und lässt das Haar herunter. Ein
Schaf ist ihr gefolgt und beschnüffelt die nackten Füße, noch bevor sie ins
Wasser eintauchen. Sie fährt zärtlich durch den dichten Pelz des Tiers, während
die Zehen beider Füße abwechselnd kleine Spritzer im Weiherwasser aufwirbeln.
Sie saugt die Waldluft in tiefen Atemzügen ein, die den Kopf frei machen.
Möglich, dass sie in dem Moment, als das Wasser ihre beiden Beine bis zum Knie
umspielt, eine Ahnung davon bekommt, was Begierde sein kann. Begierde, die den
Atem stoppt oder die Lungen zum Platzen bringen kann. Begierde, die entsteht,
wenn das Schaf die raue Zunge an ihren Waden reibt. Pure Lust, die sie zwingt,
ihren Blick von den nackten Beinen im Wasser zu nehmen. Dieses erste
schemenhafte Bewusstsein von Begierde – und davon, Objekt der Begierde zu sein
– ist, als verdichte sich die Luft, die sie umgibt, und rufe ein erstes vages
Vorgefühl des Erwachsenseins hervor.
    Nur in der Schule, die sie mit dem Schulbus erreicht, kommt sie mit
anderen Kindern zusammen. Mit den Mädchen und Buben des Dorfs und aus den
umliegenden Dörfern. Vor Monaten noch hat sie die Buben nicht einmal bemerkt
oder sich über ihre Frechheiten ärgern müssen. Seit wenigen Wochen aber ist da
etwas, was die jungen Kerle interessant macht. Immer öfter ist’s sie selbst,
die neckt und über die blöden Witze kichert. Jeden Abend freut sie sich auf den
Morgen in der Schule und die Schüler. Und sie hasst jedes Wochenende, das sie
auf Gapperding im Gefängnis ihres Vaters zu verbringen hat. Kein
Kindergeburtstag, keine Nikolausfeier, kein Sportverein, kein Zitherspielen,
kein Schuhplattln wie bei den anderen. Immer der gleiche Trott. Der Pap, die
Kühe, die Schafe und ich.
    Auch möglich, dass Maria sich über die Erwartungsfreude, die sie an
jenem Sonntag gepackt hat, ihre Gedanken gemacht hat. Dass sie – bis zu den
Knien im Wasser, die Hände im Schafspelz verkrault – überrascht war über
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