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Sakramentisch (German Edition)

Sakramentisch (German Edition)

Titel: Sakramentisch (German Edition)
Autoren: Hannsdieter Loy
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einen langen Artikel auf Seite drei:
    »Wir sind Everl. Tausend Paten für das arme Kind.«
    Ottakring las ihn zweimal.
    Er schüttelte den Kopf. Das wollte er aus erster Hand erfahren. Er
kannte den Pressesprecher des Blattes sehr gut, doch bei dem wollte er nicht
nachfragen. Und wer war stattdessen am dichtesten dran an dem Kind? Die
Zeitungen hatten es ausgeplaudert. Chili! Er musste sie anrufen.
    Sie trafen sich am Inndamm. Kein Wind ging. Es begann zu regnen.
Sie hörten die ersten Tropfen ins Wasser klatschen und sahen die Wasserfläche
sich kräuseln, noch ehe sie den Regen spürten. Dann ging es blitzartig. Es
schüttete. Im Nu waren sie patschnass. Der Regen toste so heftig auf den Strom,
in die Bäume und auf den Kies, dass es nach eineinhalb Minuten wurscht war, ob
sie Kleider am Leib trugen oder nicht.
    Chilis Kleidung klebte attraktiv am Körper.
    Ottakring schlotterte. »Was ist das mit dem Kind?«, fragte er mit
brüchiger Stimme. »Dem Everl?«
    Chili blieb stehen. »Die Abendzeitung hat den Fall vom Everl ganz
groß geschildert. Dass ihre Eltern tot sind. Dass sie als Waisenkind vom
Großvater erzogen wurde und dass der nun auch tot ist. Dann haben sie keinen
Spendenaufruf gestartet wie sonst üblich, sondern sie haben die Leser gefragt,
wer eine Patenschaft für das Kind übernehmen wolle. Und rate mal, was dabei
herausgekommen ist.«
    »Wir sind Everl. Tausend Paten«, sinnierte Ottakring.
    »Richtig. Ist das nicht der Wahnsinn? Aber …«, sie fasste den
verblüfften Kriminalrat am Arm und ging mit ihm weiter, »man muss die
Gesamtschau sehen, nicht nur das Everl«, sagte sie und blickte ihn an. Wasser
floss ihr aus dem Haar über die Stirn und in die Augen. »Deine Meinung ist uns
wichtig.«
    »Aha«, sagte Ottakring besonders laut, damit es im Rauschen des
Niederschlags nicht unterging.
    Chili legte beide Hände auf seine Unterarme. »Der Rico ist ein
harter Hund«, sagte sie. »Aber weißt du, was der vorhat?«
    »Ja«, sagte Ottakring.
    »Nein. Kannst du dir nicht vorstellen.«
    »Doch.«
    »Na was denn, wenn du schon so ein Gscheiderle bist?«
    Ottakring befreite seine Unterarme und steckte die Hände in die
Taschen. Sie gingen weiter. Der Regen ließ ein wenig nach.
    »Der überlegt«, sagte der Kriminalrat, »wie die zwei übrig
Gebliebenen straffrei ausgehen können. Is ja nix passiert.«
    »Ich hab mit dem Staatsanwalt gesprochen«, sagte Rico Stahl. »Er
ist nicht einverstanden. Aber er will auch von nix wissen. Is ja nix passiert.«
    Sie saßen relativ zwanglos in Ricos Dienstzimmer im
Polizeipräsidium. Hadi Yohl und Dr. Werner Stuffer vor dem mächtigen
Schreibtisch, der noch von seinem Vorgänger stammte, Rico dahinter. Hadi Yohl
kannte er durch dessen Romane. Dr. Werner Stuffer durch seine anwaltliche
Tätigkeit.
    Rico hatte die Daumen in die neuen regenbogenfarbenen Hosenträger
geklemmt und sah krawattenlos und großmütig auf seine beiden Delinquenten
hinab. Rico war ein Mensch, der nicht frei von Symbolen war. Dass er heute als
große Ausnahme keine Krawatte trug, war ihm wichtig. Denn heute tat er etwas,
was er noch nie in seiner gesamten erfolgreichen Laufbahn getan hatte.
    »Sie spinnen, Sie zwei«, sagte er sanft zu den beiden, die mit
breiter Brust vor ihm saßen. »Haben Sie wirklich geglaubt, dass wir Sie nicht
schnappen? Sie haben originell gearbeitet, haben prächtig falsche Spuren
gelegt. Aber schon wieder so prächtig, dass es uns natürlich auffallen musste.«
    Rico erhob sich zu voller Länge, ohne die Daumen aus den
Hosenträgern zu nehmen.
    »Selbstverständlich hatten wir sehr rasch den Artur Josef Huber im
Visier. Den Huawa von früher. Er hat ja geradezu pedantisch nach Ideen aus
Polizeiberichten gearbeitet. Dass er als Tresorknacker vorbestraft war, spielte
dabei keine Rolle. Grad rechtzeitig vor seiner Festnahme ist er gestorben. Die
Ihrige wäre nur eine Sache von wenigen Tagen, wenn nicht von Stunden gewesen.«
    Hadi war ebenfalls aufgestanden. Er war ans Fenster gegangen und
lehnte sich zurück. Sein Gesicht lag im Halbschatten. So beobachtete er Rico.
»Warum sind wir denn nun hier?«, fragte er. »Sieht nicht gerade nach einer
Festnahme aus. Warum erklären Sie uns das alles? Das hat doch einen Grund.«
    Er stand eine weitere Minute am Fenster und wartete darauf, dass
Rico Stahl etwas sagte. Doch der sagte nichts. Er hatte die Augen geschlossen.
Er schien unbegrenzt Zeit zu haben.
    »Und?«, bellte Werner. »Warum sind wir hier?«
    »Ich wollte Sie
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