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Sakramentisch (German Edition)

Sakramentisch (German Edition)

Titel: Sakramentisch (German Edition)
Autoren: Hannsdieter Loy
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als Artur sich umsichtig dem Unfallort näherte.
    Auf der Fahrerseite des Wagens lag in dem zerwühlten Schnee ein
weißbärtiger, bebrillter Hundertjähriger im grünbraunen Lodenmantel auf dem
Rücken, die Beine seltsam verdreht, wie eine unzufriedene Schaufensterpuppe
beim Dirndl-Gachinger.
    Dass die Polizei gleich vor Ort war, um den bedauerlichen Unfall
aufzunehmen und den Notarzt zu rufen, lag nicht an ihrer Schnelligkeit. Nein,
sie waren damit beschäftigt gewesen, im Vorbeifahren einem falsch geparkten
Wagen auf der anderen Straßenseite einen Strafzettel hinzupappen, und wurden
bei dieser hoheitlichen Aufgabe durch den unüberhörbaren Unfallkrach gestört.
Unwillig wandten sie sich von ihrem Strafzettelgeschäft ab und dem
schauderhaften Geschehen in ihrem Rücken zu.
    Auf der rechten Seite des Geländeprotzes kam schrilles Geplärr aus
der Mini-Schneelandschaft vor dem Pavillon. Das Schreien entfloh dem süßen Mund
von Everl, der vier- oder fünfjährigen goldigen Enkelin von Artur. Nicht nur,
dass das goldige Everl Schnee geschluckt hatte. Das Kind war auch schwer
verletzt, sein Kopf war blutüberströmt. Der Großvater hatte einen solchen Kloß
im Hals, dass er kaum atmen konnte. Er rannte sofort hin, um Everls Hand zu
halten, sie zu trösten, doch Blut floss weiterhin. Erst als der Notarzt endlich
eintraf, konnte Artur sich etwas beruhigen. Sie kam ins Klinikum.
    Was Arturs Ehefrau anging, so war da nichts mehr zu machen. Ihre
verstümmelten Überreste wurden von einer Wolldecke verhüllt, die geschockte
Nachbarn über sie gebreitet hatten. Bernadette hatte nicht lange leiden müssen.
    Nun muss man wissen, dass Arturs Tochter Franziska – er hatte sie
Franzerl genannt, solange er noch gut drauf war – vor eineinhalb Jahren in
einem Baggersee ums Leben kam. Es hatte sich um keinen reinrassigen Badeunfall
gehandelt. Das Franzerl hatte sich den Luegsteinsee ausgesucht, weil der schön
tief ist, hatte sich einen halben Zentner Beton um den Hals gehängt und war an
der allertiefsten Stelle hineingehüpft. Nicht die Öde des grauen,
wolkenverhangenen Himmels an jenem Tag war schuld an diesem Hüpferer gewesen.
Vielmehr war der Grund ganz einfach im Hinscheiden ihres über alles geliebten
Mannes Dankwart – er stammte aus Sachsen-Anhalt – zu suchen, den vor Schreck
über die siebte Heimniederlage in Folge der Münchener Bayern in der
Allianz-Arena in Fröttmaning der Schlag traf. Nach dem vierten Tor in der
zweiten Halbzeit hielt es Dankwart aus Sachsen-Anhalt nicht mehr aus und
verschied. Daraufhin wollte seine Frau, das Franzerl, nicht mehr leben. In
einem rührenden Abschiedsbrief bat sie ihre Eltern, sich um das goldige Everl
zu kümmern, klaute vom nahen Wertstoffhof den Betonklotz und sprang.
    Sie merken schon, ich habe nicht übertrieben. Der Artur ist mehr als
nur ein Pechvogel, und über sein bisheriges Leben, und erst recht über sein
zukünftiges, gibt es nichts Positives zu berichten, was Sie aufmuntern könnte.
Alles, was auf ihn herniederprasselte, war gespickt mit Unglück, Elend und
Verzweiflung. Ich rate Ihnen noch mal: Legen Sie dieses Buch aus der Hand.
    Für die wenigen Unbeirrten, Unbeugsamen will ich schweren Herzens
berichten, wie es weiterging, nachdem Artur auch noch seine Arbeitsstelle
verloren hatte. Mehrere Jahre – nach einer verabscheuungswerten Karriere in der
Verbrecherwelt – hatte er sich in einem bürgerlichen Beruf bewährt und konnte
sich und Bernadette finanziell über Wasser halten. Bis – kurz nach dem Tod von
Franziska und ihrem Dankwart aus Sachsen-Anhalt – sein Arbeitgeber auf die Idee
kam, die Belegschaft zu verschlanken und trotz Einspruch des mächtigen
Betriebsrats Arturs Stelle wegrationalisierte.
    Nach dieser Zwangspensionierung stürzten die heftigen,
erschreckenden Ereignisse der letzten Zeit den Frühpensionär Artur nicht nur in
eine Depression, sondern auch in arge finanzielle Schwierigkeiten. Und nun
musste er nicht nur Bernadettes Begräbniskosten vorschießen, sondern nach ihrem
plötzlichen Tod auch für die ansehnlichen Schulden aufkommen, die sie reihum
gemacht hatte.
    Bernadette war eine große, ausladende Frau mit Haaren wie ein Einmannzelt
gewesen, mit gummiroten Lippen und auffallend großen Nüstern. Mit dieser Nase
roch sie jedes Schnäppchen, ging hin und kaufte es. Im Lauf der Zeit sammelten
sich so Gegenstände an, die zwar lohnten, gekauft zu werden, doch überhaupt
nicht gebraucht wurden. Ein Motorroller im Sonderangebot
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