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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Gustav Schwab
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Atemzug der Geliebten oder das Rauschen ihres Gewandes hörte – aber still, totenstill war alles um ihn her.
    Von Angst und Liebe überwältigt, seiner selbst kaum mächtig, wagte er es, einen schnellen Blick rückwärts nach der Ersehnten zu werfen. O Jammer! Da schwebt sie, das Auge traurig und voll Zärtlichkeit auf ihn heftend, zurück in die schaurige Tiefe. Verzweiflungsvoll streckt er die Arme nach der Entschwindenden.
    Ach, umsonst! Zum zweiten Male stirbt sie den Tod, doch ohne Klage – hätte sie klagen können, so innig geliebt zu sein? Schon ist sie fast seinen Blicken entschwunden: »Leb wohl, leb wohl!« so tönt es leise verhallend aus der Ferne. Starr vor Gram und Entsetzen stand Orpheus zuerst, dann stürzte er zurück in die finsteren Klüfte; aber jetzt wehrte ihm Charon und weigerte sich, ihn über den schwarzen Styx zu fahren.
    Sieben Tage und Nächte saß nun der Arme am Ufer, ohne Speise und Trank; zahllose Tränen vergießend, um Gnade fleht er die unterirdischen Götter; aber diese sind unerbittlich, zum zweiten Male lassen sie sich nicht erweichen. So kehrt er denn gramvoll auf die Oberwelt zurück in die einsamen Bergwälder Thrakiens.
    Drei Jahre lang lebte er so dahin, allein, die Gesellschaft der Menschen fliehend. Verhaßt ist ihm der Anblick der Frauen, denn ihn umschwebt das liebliche Bild seiner Eurydike: Ihr gelten alle seine Seufzer und Lieder, ihrem Andenken die süßen klagenden Töne, die er der Leier entlockt.
    So saß der göttliche Sänger einst auf einem grünen, schattenlosen Hügel und begann sein Lied. Alsbald bewegte sich der Wald, näher und näher rückten die mächtigen Bäume, bis sie den Sitzenden mit ihren Zweigen überschatteten; und auch die Tiere des Waldes und die munteren Vögel kamen heran und lauschten im Kreise den wundervollen Tönen. Da durchstürmten thrakische Weiber schwärmend die Berge, das tolle Fest des Dionysos feiernd. Sie haßten den Sänger, der seit dem Tode der Gattin alle Frauen verschmähte. Jetzt erblickten sie den Verächter. »Dort seht ihn, der uns verhöhnt!« so rief die erste der rasenden Mänaden, und im Nu stürzten sie tobend auf ihn ein, indem sie Steine und Thyrsosstäbe schleuderten. Noch lange schützten die treuen Tiere den geliebten Sänger; wie aber der Klang seiner Weisen allmählich in dem Wutgeheul der wahnsinnigen Weiber verhallte, flohen sie erschreckt ins Dickicht des 400
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    Waldes. Da traf ein geschleuderter Stein die Schläfe des Unglücklichen; blutend sank er in den grünen Rasen; ach, durch den liederreichen Mund, der Felsen und Bergwild gerührt, entfloh die Seele.
    Kaum war die mörderische Rotte entwichen, da kamen die Vögel schluchzend herbeigeflattert, traurig nahten die Felsen und alles Getier; auch die Nymphen der Quellen und Bäume eilten zusammen, in schwarze Gewänder gehüllt. Um Orpheus klagten sie alle und begruben seine verstümmelten Glieder. Das Haupt aber und die Leier nahm die schwellende Flut des Hebros auf und trug sie mitten im Strome dahin.
    Noch immer klang es wie süßer Klagelaut von den Saiten und von der entseelten Zunge, leise antworteten die Ufer mit wehmütigem Widerhall. So trug der Strom das Haupt und die Leier hinaus in die Meeresfluten bis an das Gestade der Insel Lesbos, wo die frommen Einwohner beides auffingen. Das Haupt bestatteten sie, und die Leier hängten sie in einem Tempel auf. Daher kommt es, daß jene Insel so herrliche Dichter und Sänger erzeugt hat; ja selbst die Nachtigallen sangen dort lieblicher als anderswo, um das Grab des göttlichen Orpheus zu ehren. Seine Seele aber schwebte hinab ins Schattenreich. Dort fand Orpheus die Geliebte wieder, und nun weilten sie, ungetrennt und selig umschlungen, in den Gefilden Elysiums, auf ewig miteinander vereinigt.
    KEYX UND HALKYONE
    Keyx, der Sohn des Abendsterns und der Nymphe Philonis, ward durch unheilverkündende
    Weissagungen erschreckt und beschloß deshalb, über das Meer nach Klaros in Kleinasien, wo ein berühmtes Orakel des Apollon war, zu fahren. Seine treue Gattin Halkyone, eine Tochter des Windgottes Äolos, mit welcher ihn die innigste Liebe verband, suchte ihn mit Klagen und zärtlichen Vorwürfen von seinem Vorhaben abzubringen oder ihn doch wenigstens dazu zu bewegen, sie mit auf die gefährliche Reise zu nehmen. Obgleich er sich durch ihre Worte und Tränen im innersten Herzen gerührt fühlte, wich er doch nicht von seinem Vorsatze und versuchte sie
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