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Säule Der Welten: Roman

Säule Der Welten: Roman

Titel: Säule Der Welten: Roman
Autoren: Karl Schroeder
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Sacrus-Soldaten von der Plattform stiegen. Das Gebäude schwankte, es knackte und knirschte in allen Fugen. Spyres gesamte Landschaft veränderte sich, Bäume stürzten um, Gebäude erzitterten und drohten im nächsten Moment in sich zusammenzufallen. Soldaten und Offiziere beider Parteien sahen sich an, Staunen und Entsetzen im Blick. Die Bündnisse hatten schlagartig jede Bedeutung verloren.
    Odess zeigte auf die majestätisch rotierenden Habitaträder viele Kilometer über ihnen. »Komm jetzt!«, sagte er. »Klein-Spyre wird überleben, wenn die Welt zerbricht. Sie wird um die Räder herum zerfallen.«
    Venera folgte seinem Blick, dann sah sie sich um. Die kleine Fahrstuhlplattform fasste zwölf bis fünfzehn Personen; sie konnte ihre Freunde retten. Aber was dann? Eine Neuauflage der Pattsituation, die sie eben erlebt hatte, nur diesmal am Hafen? Dort waren die Führer von Sacrus. Wahrscheinlich hatten sie inzwischen die ganze Stadt in ihre Gewalt gebracht.
    »Wen willst du retten, Samson?«, fragte sie. »Es ist jetzt dein Volk. Du bist der oberste Beamte in Liris - du bist der neue Botaniker, ist dir das klar? Du bist für diese Menschen verantwortlich.«
    Die Erkenntnis traf Samson Odess wie ein Blitz, aber er reagierte anders, als Venera erwartet hätte. Seine Haltung straffte sich. Sein Blick, der sonst so unstet hin und her gehuscht war, wurde fest. Er trat zu Eilens hingestrecktem Leichnam, kniete nieder, legte ihre Glieder
zurecht und drückte ihr die Augen zu, so dass es aussah, als hätte sie sich, die Wange in einer Hand, zum Schlafen auf Liris’ Steine gelegt. Dann schaute er zu Venera auf. »Wir müssen alle retten«, sagte er.
    Es schien aussichtslos, wenn Spyres ganze Hülle um sie herum zerfiel. Es lohnte sich nicht einmal, die Toten in ihrer alten Heimat zu begraben. In wenigen Stunden oder Minuten würden sie mitsamt der dünnen Erde in Virgas Lüfte stürzen. Für die Lebenden gab es nur eine Alternative: sie mussten zur Stadt hinauffahren, um sich wahrscheinlich in Klein-Spyre gefangen nehmen zu lassen.
    Virgas Lüfte …
    »Ich weiß, was zu tun ist«, sagte Venera. »Rufe alle deine Leute zusammen. Wenn wir gleich aufbrechen, können wir es gerade noch schaffen.«
    »Wohin?«, fragte er. »Wenn die ganze Welt auseinanderfällt …?«
    »Flosse«, rief sie und rannte zum Rand des Daches. »Wir müssen Flosse erreichen!«
     
    Sie bestieg ihr Pferd, ritt im Schritt an und übernahm die Führung. Zuerst folgten ihr nur eine Handvoll Leute, nur diejenigen, die mit auf dem Dach gewesen waren, doch bald warfen Soldaten von Liris wie von Sacrus ihre Waffen weg und schlossen sich an. Die Offiziere kamen hinterher. Auch Guinevera und Anseratte tauchten auf, aber wenn jemand sie fragte, was zu tun wäre, schwiegen sie.
    Als sie am Lokschuppen vorbeizogen, kam Bryce mit einigen seiner Anhänger heraus. Sie gingen neben Veneras Pferd her, doch die beiden wechselten kein Wort,
nur ihre Blicke trafen sich. Sie wussten, dass ihre gemeinsame Zeit mit Spyres Ende vorüber war.
    Bei Tageslicht konnte Venera die Besitzungen von Groß-Spyre zum ersten und letzten Mal in ihrer ganzen Vielfalt bewundern. Bisher war sie immer nur bei Nacht daran vorbeigeschlichen oder über die wenigen überdachten Straßen gerannt, die von dieser paranoiden Zivilisation geduldet wurden. Jetzt überquerte sie den schmalen Streifen Niemandsland zwischen den Mauern auf einem drei Meter hohen Tier und konnte alles sehen. Sie war froh, dass sie diese Gelegenheit nicht früher bekommen hatte.
    Die Arbeit zahlloser Epochen und Menschenleben war in den Bau von Spyre eingeflossen. Jeder einzelne Quadratzentimeter zeugte von lebenslanger Überlegung und Planung. Jede Gartenecke, jedes Mäuerchen konnte tausend Geschichten von Liebenden und ihren Stelldicheins erzählen, von Kindern, die Burgen bauten oder alleine weinten, von kleinlichen Nachbarschaftsstreitigkeiten, die in blutigem Kampf oder durch Heirat beigelegt worden waren. Die Zeit war in Spyre niemals stehengeblieben, aber sie war so langsam geflossen wie das träge Blut eines uralten Sagenwesens, und nun glich sich das Leben der Menschen schon seit Generationen fast völlig. Ihre Hoffnungen und Träume wurden begrenzt von den Mauern, in deren Schatten sie wandelten - geprägt von den gleichen Märchen und Sagen, von der gleichen Malerei und Musik wie bei ihren Vorfahren -, bis sie schließlich zu farblosen Kopien ihrer Eltern und Großeltern geworden waren. Jeder hatte sein
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