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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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gewesen, das Bobbio dazu gebracht habe, sich der Politik zuzuwenden.
    Wir können immerhin sagen, dass sich heute in Deutschland die Stadtkinder und die Landkinder getrost für den nächsten Sommer verabreden können, da keines von ihnen des Winters an Tuberkulose sterben wird. Aber man merkt schon, dass damit nicht viel geholfen ist. Schon richtig: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Aber die Moral kommt dann eben auch dran. Eine Frage des Maßstabs. Es genügt uns zu Recht nicht, wenn niemand verhungert. Wir hatten das schon: Was nützt es uns, wenn der Arme im Ausland noch ärmer ist? Nichts. Und dass die Ungleichheit in den USA noch ausgeprägter ist als bei uns oder in Afrika, das nützt uns auch nichts.
    Eine der Rügen, die sich Angela Merkels sonderbar unbürgerliche Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht eingefangen hat, betraf einmal die Höhe der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch, also das Geld, das man Hartz IV nennt. Das war zu niedrig. Die Schuld dafür lag nicht bei Merkel allein, das hatte eine rot-grüne Regierung zu verantworten. Merkels Schuld war, dass sie alle Warnungen ignoriert hatte und erst handelte, als sie gar keine Wahl mehr hatte. Aber Angela Merkel hat sich bequem eingerichtet im dreifaltigen Kapitalismus: Einem Drittel von uns geht es gut, ein Drittel fühlt sich bedroht – und ein Drittel wird abgeschrieben. Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, stürzt in die wachsende Masse derer, die die Ökonomen »Surplusbevölkerung« nennen: die Überflüssigen. Über ein Jahr lang kümmerte sich die Bundeskanzlerin nicht um den Befund aus Karlsruhe, wo am 9. Februar 2009 festgestellt worden war, dass die Hartz-IV-Gesetze gegen Artikel 1 und gegen Artikel 20 verstießen. Das sind keine Kleinigkeiten. Das Gericht befand, dass der deutsche Staat seinen Armen kein »menschenwürdiges Existenzminimum« garantiere und dass über die »physische Existenz« hinaus auch ein »Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben« zur Würde des Menschen gehöre. Das Gericht hat also daran erinnert, dass auch in der Ära der Globalisierung nicht die Dritte Welt der Maßstab für die Beantwortung der Frage ist, was wir uns unter einem Sozialstaat vorstellen. Es genügt nicht, wenn hier niemand verhungert.
    Offenbar ist Deutschland ein Land geworden, in dem ein Gericht an so etwas erinnern muss.
    Wenn man beklagt, dass die Ungleichheit zugenommen habe, bedeutet das nicht, der Gleichheit das Wort zu reden. Die Idee einer alles umfassenden Gleichheit ist eine Illusion, töricht oder gefährlich, oder beides. Die Menschen sind gleich, weil sie Menschen sind, und ungleich, weil sie Individuen sind. Sie sind gleich und ungleich. Das spüren wir alle. Nicht jede Ungleichheit ist unerträglich. Welche wollen wir uns zumuten? Die Leute suchen nicht nach Gleichheit. Sie suchen nach Gerechtigkeit in der Ungleichheit.
    In seinem bemerkenswerten Buch »Ungerechtigkeiten« lässt der französische Soziologe François Dubet einen jungen Arbeiter zu Wort kommen, der dem Wissenschaftler halb belustigt, halb erzürnt erzählt hat, dass in seinem Unternehmen die Firmenparkplätze für die Ingenieure reserviert sind: »Das kommt einem am Anfang sonderbar vor.« Unausgesprochen hängen hier die Verse aus dem Hans-Albers-Lied in der Luft:
    Beim ersten Mal,
    da tut’s noch weh.
    Da glaubt man noch,
    dass man es nie verwinden kann.
    Dann mit der Zeit, so peu à peu,
    gewöhnt man sich daran. 7
    Aber muss denn dieser Arbeiter sein Auto weniger dringend parken als sein Chef? Pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz ist eine Pflicht, die gleichermaßen alle trifft. Der ungleiche Zugang zum Parkplatz ist kein notwendiger Teil der funktionalen Hierarchie der Arbeit. Er ist ein reines Privileg. Ein Standesrecht. Ein jeder soll auf seinen Platz verwiesen werden. Solche Ungleichheit kommt einer Demütigung gleich. Dubet schreibt: »Nicht weil die Gleichheit nicht gewährleistet ist, kommt das Gefühl der Ungerechtigkeit auf, sondern weil die legitimen hierarchischen Ungleichheiten verletzt werden.«
    Gleichmacherei ist den meisten Menschen fremd. Wer ist schon egalitär? Die Leute wollen ihre Positionen sichern, und sie wollen faire Umstände.
    Man kann noch mit einigem Sinn davon sprechen, dass Gerechtigkeit eine absolute Tugend ist. Gleichheit ist nur noch eine relationale Eigenschaft. Wenn noch so viele Menschen ungerecht behandelt werden, wird daraus nie Gerechtigkeit. Gleichheit
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