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Russisches Abendmahl

Russisches Abendmahl

Titel: Russisches Abendmahl
Autoren: Brent Ghelfi
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Drittel mehr als ihre monatliche Rente, aber nur ungefähr sechsunddreißig amerikanische Dollar. Ängstlich, weil sie fürchten, mit meiner Großzügigkeit könnte es zu Ende sein, wenn sie etwas Falsches sagen. Sie murmeln, »Gott segne dich, mein Sohn«, und verschwinden wieder in ihren winzigen Wohneinheiten.
    Der enge Fahrstuhl im dritten Hochhaus ist kaputt. Im neunten Stock, als ich mich durch eine verschrammte Feuertür in einen Betonflur zwänge, dessen Boden nach Jahrzehnten schlurfender Füße verschiedene Brauntöne angenommen hat, schmerzt mein Stumpf. Die Türen sind mit Stoff gepolstert, um den Lärm zu dämpfen. Verlassene Fußmatten, auf denen Willkommen steht, grüßen die Besucher. Ich bleibe vor einem Türvorleger aus Gummi mit lilafarbenen Veilchen stehen und klopfe leise an.
    Hinter der Tür sind schleppende Schritte zu hören, gefolgt von klickenden Schlössern. Die Tür öffnet sich knarrend. Mascha tritt beiseite, als ich mich in ihre Einzimmerwohnung dränge.
    Dreiunddreißig Quadratmeter. Die Decke so tief, dass ich mich wie eine nervöse Schildkröte ducke. Kochplatte, ein Waschbecken, Einzelbett, 13-Zoll-Fernseher mit einem in Folie gewickelten Kleiderbügel als Antenne, und ein Korbstuhl, groß genug für ein Kind. Ich quetsche mich in den Stuhl und verdrücke ein Stück Ingwer-Sahne-Torte, die sie sich nicht leisten kann, aber immer als kleines Dankeschön im Haus hat.
    Sie trägt ein wogendes, bodenlanges purpurrotes Unterkleid, Kreolen und ein abgetragenes Lederhalsband mit geschnitzten Elfenbeinfiguren. Ein paar davon sind Tiere, der Rest eher seltsame Geschöpfe. Sie reicht mir einen angeschlagenen Becher mit starkem Tee. Das Zittern ihrer gebrechlichen Hand erzeugt kleine Wellen auf der Oberfläche der schwarzen Flüssigkeit.
    »Soll ich dir noch mal aus der Hand lesen? Vielleicht kann ich diesmal mehr erkennen.« Ihre kratzige Stimme zeugt von zu vielen Jahren filterloser Zigaretten und einem entbehrungsreichen Leben.
    »Nein. Danke, Mascha.«
    Sie fragt jedes Mal, und ich sage jedes Mal Nein. Letzte Woche habe ich Ja gesagt, von einem merkwürdigen Impuls getrieben, dem ich nur selten nachgebe. Sie hatte den Raum verdunkelt und sich gegenüber von mir aufs Bett gesetzt. Unsere Knie berührten sich, meine rechte Hand lag zwischen ihren Händen wie eine dicke Scheibe Fleisch zwischen zwei welken Salatblättern in einem Sandwich, und sie hatte die Augen geschlossen. Als sie endlich den Kopf hob, war ihr Blick ins Leere gerichtet, die Augen so weit aufgerissen, dass es aussah, als bedeckten sie ihr ganzes Gesicht. »Es gibt zwei«, sagte sie. »Zwei von jedem.« Sie streichelte weiter meine Hand, immer noch mit diesem entrückten Blick, aber damit war meine Sitzung zu Ende, egal wie viele Fragen ich stellte. »Ich kann dir nur sagen, was ich sehe«, erklärte sie später am Abend.
    Jetzt setzt sie sich aufs Bett und reibt ihren Stumpf. So haben wir uns kennengelernt, in einer Klinik für Amputierte. Meine Prothese ist auf dem neusten Stand der Technik, Titan in Karbonfaserlegierung mit Schnappverschluss. Auch wenn ich etwas anderes vortäusche, kann ich fast so gut laufen und springen wie damals, bevor man mir die zerschmetterten Überreste meines Fußes zehn Zentimeter unterhalb des Knies entfernt hat. Ihre ist aus sprödem Leder und rissigem Holz und fast so alt wie sie.
    Gegenüber dem Bett flimmern auf dem Bildschirm Schwarz-Weiß-Bilder von einem Bombenanschlag in der Londoner Innenstadt, oder in Jerusalem, oder in New York, ich weiß nicht wo, und im Grunde ist es auch egal.
    »Wenigstens haben die Kommunisten die Religion vertrieben«, sagt sie und starrt auf den Fernseher. »Jetzt sind die Kirchen offen, aber die Schulen geschlossen.«
    Ich werfe erneut einen Blick auf die schattenhaften Bilder. Das Gebäude auf dem Bildschirm ist eine in Flammen stehende Moschee in Moskau. Die Sahne füllt meinen Mund mit warmer, weicher Süße.
    Sie lässt die Augenlider sinken. »Die Kapitalisten bringen Drogen, Pornographie und Waffen. Essen auch, aber kein Geld, um es zu kaufen.«
    In Russland bekommen Frauen mit fünfundfünfzig Rente, Männer mit sechzig. Die meisten Männer sterben bevor sie einen Rubel sehen. Die Frauen leben weiter. Die Rente allein reicht nicht zum Überleben, also stellen sie sich stundenlang für Essensmarken an, verkaufen selbst gemachten Schmuck an Touristen, essen von Tschernobyl verstrahltes Obst und betteln. Und leiden.
    »Die Russen haben kein Glück mit
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