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Russische Freunde

Russische Freunde

Titel: Russische Freunde
Autoren: Barbara Lutz
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abgeschlossen. Zuerst sah ich einen zerknitterten Seidenschal und ein paar abgelaufene Kindersandalen. Darunter lag ein bestickter Beutel voller Murmeln und Kinderkram mitsamt einem kleinen, kopflosen Püppchen, was ich berührend fand. Dann war da noch ein USB -Stick, der überhaupt nicht in diesen Beutel passte. Ansonsten enthielt der Koffer Fotoalben und Kartonmappen mit Briefen und Dokumenten. Ich blätterte ein paar Briefe durch, konnte aber nichts lesen, schon wegen der kyrillischen Schrift. Die meisten Briefe waren von Hand geschrieben und vom Alter leicht angegilbt. Ich stellte mir vor, wie Juri die Post seiner Mutter und seiner Grossmutter aufbewahrte, Briefe, die er erhalten hatte, als er in irgendeinem Wohnheim in einer fremden russischen Stadt lebte und studierte.
    Es war nicht in Ordnung, so in Juris Andenken zu stöbern, ich legte die Briefe zur Seite und sah mir die Fotoalben an, die mir weniger intim schienen. Einen blonden Jungen, der auf fast allen Fotos abgebildet war, identifizierte ich als Juri. Blond, blass, hoch aufgeschossen, auch heute noch sieht Juri so aus. Nicht wie ich mir einen Russen vorstelle. Juri hat kaum Bartwuchs, und selbst mit dreissig wirkt er wie ein zu schnell gewachsener Junge. Juri hatte mir einmal von einer Schwester erzählt, die mit elf Jahren an einer Hirnblutung gestorben war, vermutlich das dünne Mädchen, das auf vielen Fotos neben Juri stand. Ein Album enthielt Bilder von einer Moskaureise, Juri als junger Erwachsener inmitten einer Gruppe von Kameraden. Abgesehen davon, dass mich die Bilder nichts angingen, fingen sie an, mich zu langweilen. Ich kannte die Leute nicht, Pferdeschlitten kamen keine vor, und die Häuser hätten irgendwo stehen können.
    Ganz unten im Koffer lag ein Ordner, in dem Juri Diplome und Dokumente aufbewahrte. Ich stellte fest, dass Juri in Kiew Maschinenbau studiert und vor fünf Jahren abgeschlossen hatte. Mit seinem ganzen Namen hiess er Juri Wadimowitsch Salnikow, und er hatte Blutgruppe A. Es war mir unangenehm, seine Sachen durchgesehen zu haben. Ich legte alles zurück in den Koffer und schloss ihn, zögerte dann aber, holte den USB -Stick aus dem Beutel und steckte ihn ein. Wenn schon, dann konnte ich mir auch noch anschauen, was sich darauf befand.
    Aber wie kam Juri eigentlich dazu, den Koffer in meine Abstellkammer zu stellen? Als ob er ihn parat gemacht hätte für den Fall, dass er das Haus fluchtartig verlassen musste. Weil es brannte, zum Beispiel, es gibt Leute, die solche Dinge tun. Warum aber hatte er ihn dann bei mir deponiert? Jedenfalls schrieb ich ihm eine Notiz, er solle sich bei mir melden, und heftete sie an seine Wohnungstür, die ich, soweit es das defekte Schloss zuliess, zuzog. Ich musste dringend einen Schlosser bestellen.
    Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die Wohnung einer alten, alleinstehenden Dame, die vor kurzem verstorben war, zu räumen. Esther, eine Frau, die ich von meinem abgebrochenen Studium her kenne, hatte mich darum gebeten. Sie hatte als einzige Verwandte bereits alles an sich genommen, was sie behalten wollte. Es war deprimierend, wie ich in wenigen Stunden die letzten persönlichen Spuren der alten Dame beseitigte. Mit einem schlechten Gewissen stopfte ich Lippenstifte, Cremen und eine Haarbürste, in der sich noch einzelne weisse Haare der Verstorbenen befanden, respektlos in Müllsäcke, zu abgelaufenen Lebensmitteln aus der Küche, zu bereits benützten Seifen und angebrochenen Zahnpastatuben. Zuerst wollte ich nichts nehmen, dann aber überwand ich mich und füllte zwei Tüten mit unverderblichen Lebensmitteln wie Tee und Reis. Eigentlich konnte ich diese Dinge, im Hinblick auf meine finanzielle Lage, gut brauchen.
    Während ich Blusen und Halstücher aus dem Kleiderschrank riss und Teppiche zusammenrollte, dachte ich an Frau Rottuner, meine Klavierlehrerin, die vor zwei Jahren gestorben war. Ich hatte sie noch bis kurz vor ihrem Tod mindestens einmal im Monat besucht, selbst als sie schon im Altersheim war und mich nicht mehr erkannte. Darauf war ich stolz.
    Am letzten Abend kam Esther vorbei, und wir gingen gemeinsam in ein thailändisches Restaurant essen. Esther lud mich ein und bezahlte mich auch für meine Arbeit. Sie hat das Sprachstudium, das sie gemeinsam mit mir begann, mit Doktorat abgeschlossen, während ich nach sechs Semestern abbrach. Heute arbeitet sie in einem Sprachinstitut in leitender Stellung. Sowieso leben alle früheren Freunde und Freundinnen inzwischen in
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