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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut
Autoren: Anne Chaplet
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erstreckte, obwohl es von unten wie ein in die Felsen geklebtes Räubernest aussah.
    Man blickte von der großzügigen Fläche über das Städtchen und über den nahen Fluß, über das Gewerbegebiet, das inzwischen jede deutsche Gemeinde aufwies, die auf sich hielt. Auf eine zerklüftete Felswand linker Hand, die wie ein steinerner Vorhang die Stadt begrenzte. Und auf die Bergkette am Horizont, deren höchster Gipfel der sagenumwobene Brocken war, auf dem sich die Hexen zur Walpurgisnacht trafen.
    Und rechts … Das Bild war ihr vertraut. Sie hatte es viel zu oft gesehen: aufgerissene Erde, Grabkreuze. Dennoch trat sie näher. Die Steine, die dort standen, waren zerborsten, die Inschriften von Wind und Regen ausgewaschen, die Kreuze, ebenfalls aus Stein, verwittert. Wenn das hier ein Friedhof war, dann war er jahrhundertealt. Sie berührte das Wappen auf einem der grauen Steine, dessen Konturen nur noch schwach mit den Fingerkuppen zu tasten waren. Und sagte die Worte, die schon ihre Großmutter sagte angesichts der Zeichen des Todes.
    Als sie Stimmen hörte, zuckte sie wie ertappt zusammen. Alma trat aus dem Wald, sie war nicht allein. Hastig drehte Katalina sich um und ging in die andere Richtung davon. Der Mann an Almas Seite hatte eine Figur, die weder zu Alex noch zu Peer Gundson paßte.
    Ihr Rückzug führte sie an einer Scheune mit eingestürztem Dach vorbei, daneben frisch zusammengezimmerte Ställe. Sie schlüpfte durch die halboffene Stalltür. Man konnte nichts erkennen im Dämmerlicht, aber sie hörte etwas. Stimmen. Sie stand still, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.
    »Hat sie dir nichts erzählt? Sie ist doch täglich bei ihm oben.« Das klang nach Sophie Franken.
    »Er ist nicht ansprechbar. Sagt sie.« Alex Kempers Stimme klang gleichgültig. Und dann flüsterte er: »Ich hab dich so vermißt.«
    »Du tust mir weh.« Sophie flüsterte zurück.
    »Entschuldige.« Katalina hörte den Mann atmen. »Aber dieser verdammte Reißverschluß!«
    »Wenn er nur endlich reden würde! Du weißt, wieviel davon abhängt für dich und mich.« Für dich und mich. Katalina grinste in sich hinein.
    »Verflucht! Was hast du denn bloß gemacht mit dieser blöden Jeans?« Man hörte Alex schnaufen. »Ich krieg den Reißverschluß weder rauf noch runter!«
    »Er muß doch mal mit der Sprache rausrücken. Das war doch der Deal.« Sophie Franken schien ungerührt von Alex’ Bemühungen. »Nun mach schon!«
    »Er ist krank, Sophie.«
    »Er simuliert.«
    »Er wird 84.«
    »Das ist kein Argument!«
    Dann hörte man eine Weile gar nichts. Katalina fragte sich, ob Sophie die Hose noch nicht wieder an- oder noch gar nicht ausgezogen hatte.
    »Ich kann ihn doch nicht zwingen.« Kempers Stimme klang plötzlich wieder sanfter.
    Dafür schraubte sich Sophies Stimme höher. »Aber findest du das nicht alles sehr merkwürdig? Und dann – Leo. Er könnte vergiftet worden sein, meint die Tierärztin.«
    »Beruhige dich, Liebling.« Alex Kemper schien der Schwester seiner Frau zärtliche Worte ins Ohr zu murmeln. Katalina zog sich zurück. Als sie wieder in der Sonne stand, atmete sie tief durch. Ihr Aufenthalt hier begann nicht ohne unterhaltsame Entdeckungen.
     
    In die nächste wäre sie fast hineingelaufen. Das Mädchen hatte braune Haare und braune Augen und davon abgesehen keinerlei Ähnlichkeit mit Alma. Aber es mußte ihre Tochter Noa sein.
    Katalina hielt ihr die Hand hin. Noa reagierte nicht. Sie schien den Stimmen im Stall hinterherzulauschen, konzentriert, mit zusammengezogenen Augenbrauen. Katalina zog die Hand wieder zurück und streckte sie in die Hosentasche.
    Endlich sah das Mädchen sie an.
    »Ich bin die neue Tierärztin. Katalina Cavic.«
    Das Mädchen musterte sie abschätzend. Unter ihrem kurzen Rock sah man lange schlanke Beine in Sandalen mit viel zu hohem Absatz. Jedenfalls für Waldwege und Kopfsteinpflaster – das linke Knie war verschmutzt und blutig geschlagen.
    »Du mußt Noa sein.«
    Das Mädchen nickte. Endlich lächelte es ansatzweise. Katalina hatte offenbar den Test bestanden: sie war keine Konkurrenz für frisch aufgeblühte Weiblichkeit.
    »Was ist mit deinem Knie?«
    Noa sah an sich herunter. Sie hatte die langen dunklen Haare zu einem eleganten Zopf geflochten. Für den Bruchteil einer Sekunde schmerzte der Anblick. Katalina trug ihr Haar kurz, schon seit langem. Seit damals.
    »Ach – das«, sagte sie. Und dann, trotzig: »Es gibt Schlimmeres.«
    Natürlich, dachte
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