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Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)

Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)

Titel: Rumgurken: Reisen ohne Plan, aber mit Ziel (German Edition)
Autoren: Tex Rubinowitz
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topbar, aber als Ansporn durchaus attraktiv fürs geistige Reisegepäck. Man kann sich natürlich auch, wie es die Situationisten empfohlen haben, in irgendeiner, für einen selbst fremden Stadt einen Hund ausleihen und sich von ihm gleichsam durch die Stadt ziehen lassen, nachvollziehen, wie er sich durch seine Stadt schnüffelt, das überschreitet dann die Grenzen der Kunst und betritt die olfaktorische Welt der Psychogeographie.
    Ich bin einmal durch halb Europa getrampt, mit einem Unguis incarnatus, vulgo eingewachsener Fußnagel, eine stark pochende Entzündung, es bildet sich Granulationsgewebe, sogenanntes «wildes Fleisch», ein Reisegefährte, der unbedingte Aufmerksamkeit fordert, und das war in dem Moment vielleicht nicht wirklich lustig, aber rückblickend betrachtet natürlich ein exquisites Beispiel für das etwas andere Reisen. Urlaub mit Schmerzen, man nimmt alles um sich herum ganz anders wahr, einem selbstverständlichen Umstand wie der Straße wird endlich einmal die Aufmerksamkeit geschenkt, die er verdient, jeder Schritt ein stechender Schmerz, kanalisiert noch durch meine engen, klobigen, nach vorne spitz zulaufenden Rockabilly-Schuhe, die ich zu jener Zeit trug. Ich kaufte mir dann in Belgien erbsgrüne Flip-Flops, wie furchtbar stillos, aber meine Zehen verlangten nach Luft. Die Rockabilly-Creepers schmiss ich in einem pathetischen Akt in den Ärmelkanal, von dem einen Pier in Blankenberge, natürlich nicht dem aus Beton, sondern dem aus Holz, zu dem ich immer wieder gerne zurückkehre, um mich dort mit Duvel volllaufen zu lassen, kleine viskose Passagen ins Paradies. Trotz der neuen Fußfreiheit quoll mein rechter Zeh, der befallene, auf wie ein Ballon, heiß und prall mit gelbem Eiter. Ab und zu stach ich den Ballon mit einem Kugelschreiber an und ließ Eiter ab, aber es änderte natürlich nichts, die bösen Keime reisten mit mir im Zeh bis Portugal, eine Spur des Eiters, der Auftrag war also, dem Schmerz Europa zu zeigen, oder andersherum. Wie Joseph Beuys einst dem toten Hasen die Kunst erklärt hat, während draußen vor der verschlossenen Tür die murrenden Museumsbesucher warten mussten.
    In Porto lernte ich einen Zahnarzt kennen, einen etwa zwei Meter großen, schwulen Afrobrasilianer namens Marco, der als Barmann arbeiten musste, weil es viel zu viele brasilianische Zahnärzte in Portugal gibt. Ihm klagte ich mein Leid. Er sah sich meinen Zeh an und meinte, das könne man behelfsmäßig reparieren. Zunächst gab er mir einen Wodka, den sollte ich mir über den Zeh kippen, zwecks Sterilisation, der gehe «aufs Haus», daheim habe er ein kleines Instrumentarium, keimfreies Operationsbesteck, Skalpell, Nadeln und Faden. Auf meinen Einwand hin, dass das, was mich plage, antipodisch am gegenüberliegenden Punkt dessen liege, was eigentlich sein Aufgabenbereich sei, meinte er, völlig richtig, aber er sehe hier etwas, was auch ein Laie rasch beheben könne, das sei ganz einfach. Er zeichnete mir auf eine Serviette, was er vorhatte, es sah seriös aus, ich solle nur seine Schicht abwarten, dann könnten wir das bei ihm zumindest versuchen. Ich wartete also in seiner Bar und trank mir die Skepsis weg. Um vier Uhr morgens gingen wir in seine Wohnung. Ich bin bei solchen Sachen immer sehr arglos und denke, mit Arglosigkeit macht man sich immun, Angst macht empfindlich, schreckhaft und verwundbar, und mein pochender Zeh sagte, geh mit. Ich hatte Marco zwar vorsorglich angedeutet, ich sei nicht schwul, wenn er es darauf anlegen würde, könne er sich den Vorwand, den Umweg über die Operation sparen, aber er meinte nur, er wisse das natürlich, und auch wenn ich «zip zip» (bisexuell wahrscheinlich) sei, möchte er mir nur helfen, er habe das auch mal gehabt, das mit dem Zeh. Ich war so betrunken, dass das als Anästhetikum ausgereicht hätte, aber als er in einer nierenförmigen Schale sein Besteck zurechtlegte, beschlichen mich allerdunkelste Jeffrey-Dahmer-Szenarios: Was mache ich eigentlich hier, ein riesiger, schwarzer Voodoo-Zahnarzt amputiert mir nicht den Zeh, sondern betäubt mich, bohrt mir ein Loch in den Kopf und träufelt Säure hinein, um mich zum willenlosen Sexzombie zu machen usw. Ich sagte, ich müsse noch mal schnell aufs Klo, der viele Gin vorhin in der Bar, die Oliven, die Bolinhos de Bacalhau (Kugeln aus Stockfischabfällen), die Zigaretten, ich deutete auf meinen Magen, und das war nicht einmal gelogen, in mir rumorte eine Rastlosigkeit wie die eines läufigen
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