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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Autoren: Pascale Hugues
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unwichtigsten zu den folgenreichsten, von den skurrilsten zu den gravierendsten, wird einem bewusst, dass in diesem Jahr bereits die Keime zum Ersten Weltkrieg angelegt sind. 1904 unterzeichnen Großbritannien und sein «Erbfeind» Frankreich angesichts der zunehmend aggressiven «Weltpolitik» des ganz neuen Deutschen Reiches die
Entente cordiale
. Der frankophile Edward  VII ., King of the United Kingdom, of Great Britain and Ireland and of the British Dominions, Emperor of India, und Emile Loubet, simpler Präsident der III . Republik, stimmen ihre Einflussbereiche in Nordafrika und Asien miteinander ab und bremsen damit den industriellen Fortschritt und die Flottenambitionen Wilhelms  II . – der erste Schritt zur deutschen Isolierung. 1904 schlägt General Lothar von Trotha in der Schlacht von Waterberg den Aufstand der Hereros und der Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika gewalttätig nieder – der erste Massenvölkermord des 20 . Jahrhunderts. 1904 lässt Kaiser Wilhelm  II . auf einer Edisonwalze eine kurze Ansprache über Zurückhaltung und Bescheidenheit aufzeichnen. Es ist das erste bis heute erhaltene politische Tondokument der Welt.
Hart sein im Schmerz, nicht wünschen, was unerreichbar oder wertlos, zufrieden mit dem Tag, wie er kommt, in allem das Gute suchen und Freude an der Natur und an den Menschen haben, wie sie nun einmal sind …
Die Stimme knistert auf der alten Aufnahme wie Gewitterregen, der auf ein Blechdach trommelt. Der letzte deutsche Kaiser erinnert darauf eher an einen tibetanischen Mönch, der seine besänftigenden Lebensweisheiten verkündet, als an den prunksüchtigen Militaristen mit Adlershelm, der zehn Jahre später sein Land und die ganze Welt in einen verheerenden Krieg stürzen wird.
     
    Und irgendwo, kaum hörbar in dem ganzen Tumult der Geschichte, hallen auf einer Baustelle die ersten Pickelschläge meiner Straße wider.
     
    An manchen Sommerabenden führt der trockene Nachtwind den Geruch von Heu und Kiefern aus den flachen Weiten Brandenburgs auf meinen Balkon. Er ruft mir in Erinnerung, dass meine Straße aus Ackerboden hervorgegangen ist.
    1870 schlägt Preußen Frankreich in Sedan. Bismarck vereint Deutschland. Am 18 . Januar 1871 wird im Spiegelsaal von Versailles inmitten von Europas Herz ein mächtiges Reich ausgerufen. Berlin wird Reichshauptstadt und das neue Deutschland eine Industrienation. Ein gewaltiger wirtschaftlicher Aufschwung setzt ein, und der Ruf nach einer Hauptstadt wird laut, die den politischen Ambitionen und der Forderung nach einem «Platz an der Sonne» gerecht wird. Die bescheidene Residenzstadt Preußens wird zur monumentalen Kaiserstadt. Die Machteliten führen nur noch das Wort «Repräsentation» im Munde. Eine Periode des Friedens und der Prosperität, der Möglichkeiten und des Optimismus. Berlin, die Neuarrivierte, unternimmt pathetische Anstrengungen, um mit Paris, Wien oder London zu wetteifern, altehrwürdigen, strahlenden Metropolen, ihres Ranges und ihrer Reize sicher. Sie trägt ein bisschen dick auf dabei. Die Möchtegernkapitale, die mit Superlativen nur so um sich wirft, bekommt den spöttischen Diminutiv «Metropolinchen»: Sie hat die elegantesten Luxushotels, die größten Warenhäuser Europas, einen neuen, unverhältnismäßigen Dom, eine von Marmorstatuen der Könige, Markgrafen und Kurfürsten Preußens gesäumte Siegesallee, von den Berlinern «Puppenallee» genannt. Ihre Frauen tragen die extravagantesten Hüte. Ihre Männer die längsten Schnurrbärte. Und darüber hinaus ist Berlin mit seinen endlos sich aneinanderreihenden Mietskasernen, versifften Hinterhöfen und kleinen, übervölkerten Wohnungen, in denen Tuberkulose, Trinksucht und Inzest grassieren, eine der größten Industriestädte des europäischen Kontinents. Seine Bevölkerung wächst explosionsartig. Beamte, Soldaten und Offiziere der kaiserlichen Armee, Angestellte der neuen Unternehmen, Händler, Fabrikanten, Arbeiter der entstehenden Industrien – all diese Menschen muss die neue Gigantin plötzlich unterbringen.
    Es muss so schnell wie möglich gebaut werden. Eine rasende Immobilienspekulation setzt ein. Die Terraingesellschaften – die Immobilienfirmen der damaligen Zeit – schießen wie die Pfifferlinge aus dem herbstlichen Unterholz. Die Profitchancen sind hoch. Die Risiken ebenfalls. Der Börsenkrach von 1873 treibt zahlreiche Terraingesellschaften in den Bankrott. Andere, wie die Berlinische Boden-Gesellschaft des
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