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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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freuen konnte, aber die Traurigkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Und dann gab sie zu, dass sie uns verlassen würde. Papa hatte befunden, dass ich zu alt sei für ein Kindermädchen und dass sich von jetzt an Violet, unsere Hausangestellte, um mich kümmern konnte. Ich mochte Violet nicht: Sie war dick, hatte kalte Hände und roch nach muffiger Wäsche. Vergeblich bettelte ich bei Papa darum, dass Annie bleiben dürfte. Wir könnten es uns aufgrund des Schulgeldes bei Miss Hale nicht leisten, sie zu behalten, sagte er. Ich sagte ihm, dass ich nicht in die Schule gehen mochte und dass ich alles Nötige aus Büchern lernen könne und dass Annie dann ja nicht gehen müsse; aber das half nichts. Wenn ich zu Hause bliebe, dann brauchte ich eine Hauslehrerin, und das wäre noch teurer. Nein, Annie konnte nicht meine Hauslehrerin werden, weil sie kein Französisch sprach und nichts von Geschichte oder Geographie wusste oder von all den anderen Dingen, die ich in der Schule lernen würde.
    Obwohl ich zu Miss Hales Schule mit dem festen Entschluss ging, alles daran zu hassen, war ich unvorbereitet auf die pure Langeweile der Schulstunden. Zu Hause hatte ich immer unbeaufsichtigt gelesen, denn Annie hatte keine Ahnung von Büchern und konnte kaum eine Fibel entziffern. Papa schloss sein Arbeitszimmer ab, nicht aber die Bibliothek nebenan, ein Raum nicht größer als ein Schlafzimmer, für mich aber eine Schatzkammer, zu der ich stillschweigend Zugang hatte, solange jedes Buch genau an seinen Platz zurückgestellt wurde, ehe mein Vater nach Hause kam. Und so war ich es gewohnt, Bücher zu lesen, die ich kaum verstand, und mit Hilfe von Doktor Johnsohns Wörterbuch über den Klang und die Bedeutung unbekannter Wörter zu rätseln. In der Schule musste hingegen alles mechanisch auswendig gelernt werden,ausgenommen die endlosen Additionen im Mathematikunterricht, die ich ebenso sinnlos wie verblüffend fand.
    Auch hier, mit den anderen Mädchen in meiner Klasse, wurde mir das Fehlen von Geschwistern und anderen Verwandten nur allzu bewusst. Ich hatte nichts, worüber ich reden konnte, außer den Büchern, die ich las, und ich fand schnell heraus, dass eine frühe Bekanntschaft mit den Werken von Shelley und Byron nicht gerade etwas war, womit man angeben konnte.
    Doch trotz all der Langeweile wurde Miss Hale sozusagen ein Lichtblick in der Düsternis, die meine Mutter umgab. Anstatt mit Annie im Kinderzimmer Tee zu trinken, musste ich nun meiner Mutter am Esstisch Gesellschaft leisten und mühevoll Konversation betreiben – meist in Form eines Berichts dessen, was ich an dem Tag in der Schule gelernt hatte. Und dann saßen wir stumm im Wohnzimmer. Mama stocherte mechanisch im Feuer oder blickte leer in die Flammen, während ich meine Arbeit aufnahm und dabei dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims lauschte und die Viertelstunden zählte, bis ich in mein Dachzimmer gehen könnte, wo ich im Bett so lange lesen würde, dass ich gerade noch die Kerze auspusten konnte, ehe mir die Augen zufielen.
     
    ∗∗∗
     
    In meinem zweiten Jahr bei Miss Hale gewann ich einen Preis fürs Vortragen: ein wundervoll illustriertes Buch griechischer Mythen. Meine Lieblingsgeschichten waren die von Theseus und Ariadne, von Orpheus und Eurydike und ganz besonders die von Persephone in der Unterwelt. Alles, was mit der Unterwelt zu tun hatte, faszinierte mich. Ich stellte mir damals vor, dass sie sich direkt unter unserem Küchenboden befand und dass ich, wenn ich nur stark genug wäre, eine der Steinplatten hochzuheben, eine Treppe zu ihr finden würde. Ichbesaß eine Muschel, in der ich das Meer rauschen hören konnte, was mich immer getröstet hatte. Ich las mein Buch, vertiefte mich in den Anblick der Bilder, lauschte dem Meer und dachte mir meine eigenen Geschichten von Persephone im Hades aus. Sechs Granatapfelkerne schienen keine besonders schwere Sünde zu sein. Später erzählte mir Papa, dass es eigentlich eine Geschichte über die Jahreszeiten sei, von den Samen, die unter der Erde auf die Ankunft des Frühlings warteten. Ein kluger Mann in Cambridge habe das erzählt. Aber das erschien mir so nichtssagend und ließ alles Interessante aus: den Fährmann Charon und Kerberus mit seinen drei Köpfen, und Hades mit seiner Tarnkappe, mit der er sich ungesehen in der Welt bewegen konnte. Ich fragte Papa, ob der kluge Mann dasselbe über Eurydike dachte, aber es schien, dass er darüber noch zu keinem Schluss gekommen war.
    Vielleicht
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