Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
Treppenstufen gefunden worden waren; ich konnte auch eines von ihnen sein. Vielleicht hatte Mama eigene Kinder gehabt, die früh gestorben waren und von denen niemand mehr sprach. Vielleicht war sie unfruchtbar, wie Abrahams Ehefrau Sarah, und hatte mich als Pflegekind aufgenommen und dann beschlossen, mich bei sich zu behalten. Und dann hatte Gott ihr Almageschenkt   … Nein, das wäre doppelt unverständlich: Wenn Er ein gütiger und liebender Gott war, wie Mr   Halstead in seinen Predigten betonte, warum hätte Er ihr Alma dann so schnell wieder nehmen sollen? Hatte Er es getan, um Mamas Glauben auf die Probe zu stellen, so wie Er den Glauben Hiobs auf die Probe gestellt hatte? «Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen», sagte Hiob. «Gelobt sei der Name des Herrn.»
    Ich konnte es nicht begreifen, aber dennoch, einmal gesät, wuchs der Verdacht in mir. Es hätte erklärt, warum Mama Alma so viel mehr liebte als mich, warum ich ihr niemals ein Trost sein konnte und warum ich sie, wie ich manchmal voller Schuldgefühl vermutete, nicht so sehr liebte, wie ich sollte. Obwohl ich immer dafür betete, dass sie wieder froh sein möge, dachte ich mit Schrecken daran, allein mit ihr in dem dunklen Wohnzimmer zu sein, in dem sie ihre Tage verbrachte. Ich saß dann neben ihr auf dem Sofa, zupfte an meiner Handarbeit oder gab vor zu lesen, während ich fühlte, wie sich ein bleiernes Band immer enger um meine Brust legte. Und immer wieder sprach ich leise vor mich hin: «Ich bin ein Waisenkind; sie ist nicht meine Mutter, ich bin ein Waisenkind, sie ist nicht meine Mutter   …», bis ich gehen durfte. Und dann machte ich mir selbst heftige Vorwürfe, weil ich nicht mitfühlend genug war. Eigentlich waren alle Gefühle meiner Mutter gegenüber mit Schuld verbunden; ich fühlte mich sogar schuldig, am Leben zu sein, denn ich wusste, dass es ihr allemal lieber gewesen wäre, wenn ich gestorben wäre und Alma noch lebte. Aber wenigstens hatte sie mich nicht ins Waisenhaus zurückgegeben, und da Mama und Papa offensichtlich die Entscheidung getroffen hatten, mir nicht zu erzählen, dass ich ein Waisenkind war, wusste ich, dass ich nicht das Recht hatte, sie danach zu fragen.
    Ich versuchte auf jede erdenkliche Weise, von Annie eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Aber irgendwie ging sie auf meine Anspielungen nie ein, und je mehr ich versuchte, das Gespräch auf Waisenkinder zu bringen, umso mehr schiensie davon abzulenken, bis wir – ohne dass ein Wort darüber verloren worden wäre – nicht mehr am Waisenhaus vorbeikamen: Immer hieß es «nächste Woche» oder «ein andermal». Einmal fragte ich sie, ob ich an Almas Tod schuld sei. Ich erschrak ob der Vehemenz ihrer Reaktion. Sie fragte mich wütend, wer mir einen solchen Floh ins Ohr gesetzt hätte. Aber vielleicht hatten Mama und Papa ihr nicht die Wahrheit über mich gesagt? Für diesen Gedanken hätte sie mich natürlich auch gescholten. Aber vor allem war ich selbst nie ganz sicher, wie weit ich an diese Geschichte glaubte.
     
    ∗∗∗
     
    Solange ich Annie hatte, gab es jeden Tag etwas, worauf ich mich freuen konnte. Sie hatte Freundinnen, die Kindermädchen waren und die ihre Kinder mitbrachten, mit denen ich draußen spielen konnte, mit denen ich herumrennen und lachen konnte. Dann dachte ich nicht mehr darüber nach, ob ich ein Waisenkind war. Aber wenn die anderen Kinder über ihre Brüder und Schwestern, über Onkel und Tanten und Cousins und Großmütter sprachen, dann fiel mir auf, dass ich nie irgendwelche meiner Verwandten gesehen hatte. Als ich älter war, hörte ich, dass Papa eine verwitwete Schwester in Cambridge hatte, die nicht zu Besuch kam, weil es Mama nicht gutging, und dass Mama einen jüngeren Bruder namens Frederick hatte, den sie schon seit Jahren nicht gesehen hatte. Meine Großeltern lebten nicht mehr; Papa und Mama waren schon verhältnismäßig alt gewesen, als sie geheiratet hatten. Mamas Vater war lange krank gewesen, und sie hatte zu Hause leben und ihn pflegen müssen, bis sie fast vierzig war.
    Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass Annie und ich nicht für immer so fortleben konnten. Als ich acht Jahre alt war, nahm sie mich eines Tages mit auf ihr Zimmer, setzte mich auf ihr Bett, nahm mich in den Arm und sagte mir, dassich bald in Miss Hales Schule, die nur einen kurzen Fußweg von unserem Haus entfernt war, kommen würde. Sie versuchte, dieser neuen Situation den Anschein von etwas zu geben, auf das ich mich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher