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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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ist es eigenartig, aber die Seelen der Toten hatten in meiner Unterwelt keinen Platz. Es war ein rätselhafter Ort voller Tunnel und Geheimnisse, finster und doch irgendwie spannend, ein Ort, an dem ich frei hätte umhergehen können, wenn ich nur den Weg dorthin finden könnte. Einmal träumte ich von einer Höhle, in der ich eine fein gearbeitete Kiste voller Gold und Silber und wertvoller Steine fand, die alles in Licht tauchte, wenn man sie öffnete. Sie wurde Teil meiner Unterwelt zusammen mit ihrem Gegenstück, einer einfachen Holzkiste, die zunächst leer schien. Sah man aber länger hin, begann die Dunkelheit daraus emporzuquellen wie kalter, schwarzer Dunst, trat über die Ränder und breitete sich über den felsigen Boden der Höhle aus. Da waren die Ebenen von Asphodel, die schön und düster sein mussten, mit einem Teppich – so stellte ich sie mir jedenfalls vor – aus Blumen von reinem Lila. Und wenn man die Tunnel leid war, konnte man in die Elysischen Felder hinaufsteigen, wo die Sonne immer scheint und die Musik nie verstummt.
    Zu Hause jedoch war meine tote Schwester immer präsent.Mama hatte Almas Zimmer in ein Heiligtum verwandelt, eine kleine Kammer, die von ihrem Schlafzimmer abging und wo alles so blieb, wie es einmal gewesen war, als könnte Alma jeden Moment wieder erscheinen: Die Laken waren zurückgeschlagen, Almas Lieblingspuppe lag neben dem Kopfkissen, ihr Nachthemd war bereitgelegt, und auf der Anrichte stand ein Sträußchen Blumen. Die Tür stand immer offen, aber niemand außer Mama durfte je über die Schwelle treten. Mama übernahm alles Polieren und Staubwischen selbst, was Violet nur recht war, denn sie war faul und hasste das Treppensteigen. Violet schlief in einem Zimmer im Dachgeschoss, meinem eigenen Zimmer gegenüber. Manchmal konnte ich nachts ihr Schimpfen und Schnaufen auf dem Weg ins Bett hören. Mittlerweile frage ich mich, warum sie so lang bei uns blieb, denn unser Haus hatte so viele Treppen, dass nahezu jeder Weg mindestens zwei Treppen einschloss.
    Außer Violet hatten wir die Köchin Mrs   Greaves, die ausschließlich im Souterrain wohnte. Sie war Witwe, hatte graue Haare und war korpulent und rotgesichtig wie Violet. Aber während Violet wie ein in ein Tuch gewickelter Pudding wackelte, war Mrs   Greaves so rund und kompakt wie ein Fass. Obwohl die Küche nur ein verrußtes Fenster hatte, war sie der hellste und wärmste Ort im Haus, denn Mrs   Greaves ließ das Gaslicht brennen, so hell es ging, und im Winter schaufelte sie so viele Kohlen in den Küchenherd, bis man das rotglühende Flackern durch die Spalten um die Tür sehen konnte. Sie war es, die Violet ihre Aufgaben erteilte, die dann langsam und missmutig, aber gehorsam ausgeführt wurden. Die Wäsche wurde an eine Wäscherin gegeben.
    Abgesehen von Almas Zimmer zeigte Mama am Haushalt wie an allem anderen keinerlei Interesse, und Papa muss entweder nicht gewusst haben, wie hoch die Ausgaben für Gas und Kohle sein sollten, oder es war ihm gleichgültig, solange man ihn nicht in seinem ruhigen Leben störte.
    Mrs   Greaves schlief in einem kleinen Zimmer hinter der Speisekammer, das auf einen feuchten, von hohen Mauern umschlossenen Hinterhof hinausging. Ess- und Wohnzimmer waren im Erdgeschoss. Papa hatte die erste Etage für sich: die Bibliothek, daneben, in der Mitte, sein Büro, dann sein Schlafzimmer, und es gab ein Badezimmer am Treppenabsatz, sodass für ihn keinerlei Notwendigkeit bestand, weiter hinaufzugehen; jedenfalls habe ich ihn das nie tun sehen. Mamas und Almas Zimmer waren ein Stockwerk darüber, zusammen mit dem Zimmer, das Annies gewesen war; darüber kamen die Dachzimmer. Mein eigenes kleines Zimmer ging nach Osten, und an winterlichen Sonntagen verkroch ich mich oft nachmittags im wärmenden Bett. Ich versuchte, mich in dem Blick auf das Meer von Schiefer und geschwärzten Ziegeln zu verlieren, das sich Richtung St Paul’s erstreckte, und dachte an all die Leben, die sich hinter diesen endlosen Mauern zutrugen.
     
    ∗∗∗
     
    Mrs   Greaves hatte ich immer gemocht. Aber solange ich Annie gehabt hatte, die für mich sprach, war ich zu schüchtern gewesen, um mehr als «ja», «nein» und «danke» zu sagen. Und noch lange nach Annies Fortgang vermisste ich sie zu sehr, als dass ich auf Mrs   Greaves hätte zugehen wollen. Aber wie die Monate vergingen, wurde ich von dem Licht und der Wärme der Küche angezogen, vor allem sonntags, wenn Violet ihren freien Tag hatte.
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