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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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führen sehen. Es war die erste Juniwoche und noch taghell, dochdie Abendluft war kühl. Die Tür der Gesellschaft stand offen. Wie Mrs   Veasey es mir erklärt hatte, ging ich über eine enge Treppe hinauf in einen dämmrigen, getäfelten Raum, in dem die Vorhänge bereits zugezogen waren. Das einzige Möbelstück war ein großer runder Tisch, um den bereits ein halbes Dutzend Menschen saß, darunter auch Mrs   Veasey, in deren Rücken ein kleines Kohlefeuer brannte. Sie begrüßte mich warmherzig, stellte mich dem Zirkel vor und forderte mich auf, mich ihr gegenüberzusetzen, zwischen einem Mr   Ayrton, an dessen Seite seine Frau saß, und einer älteren Frau namens Miss Rutledge. Außerdem war dort ein Paar mittleren Alters, Mr und Mrs   Bachelor, ebenso Mr   Carmichael, ein enorm fetter Mann, dessen Doppelkinn auf die riesige Ausdehnung seiner Weste herunterhing. Er hatte feuchte, blasse Augen und keuchte leicht beim Atmen.
    Diese Leute waren, wie ich erfahren sollte, die regelmäßigen Teilnehmer von Mrs   Veaseys Séancen. Eine Reihe anderer erschien in den nächsten Minuten, bis der letzte Platz am Tisch besetzt war, woraufhin Mr   Ayrton sich erhob und die Tür schloss. Er forderte uns dann auf, uns an den Händen zu halten und «Abide with Me» zu singen, was wir eher disharmonisch taten, sowie einige andere Hymnen, während Mrs   Veasey tiefer in ihren Sessel sank und zu dösen schien.
    Mrs   Veasey hatte mir von der Geisterbeschwörung erzählt, aber ich war entsetzt, als sie mit harscher Männerstimme zu sprechen begann, von Mr   Ayrton als «Kapitän Veasey» begrüßt. Die Nachrichten hatten etwas Banales, aber sie waren anrührend. Mr   Carmichael zum Beispiel wurde erzählt, dass Lucy wie immer über ihn wachte und dass seine «gegenwärtigen Schwierigkeiten» sich bald von selbst lösen würden, woraufhin er einen tiefen, keuchenden Seufzer tat, beinah ein Schluchzen, und seinen Kopf neigte. Jeder im Kreis erhielt eine Nachricht, und ich sah, wie die Anwesenden jedes Wort in sich aufsogen. Die Nachricht für mich war: «Alma sagt, dass du richtiggehandelt hast.» Und obwohl ich wusste, dass Mrs   Veaseys Trance vorgetäuscht war – tatsächlich meinte ich, ihr linkes Augenlied ganz leicht zittern zu sehen, während sie (oder vielmehr der Kapitän) sprach   –, hatte ich doch einen Kloß im Hals.
    Sie hatte aufgehört zu sprechen, und ich dachte, die Séance sei beendet, als sie ihre Augen, die sie während der Vorstellung geschlossen hatte, aufriss. Sie schienen auf einen unsichtbaren Gegenstand gerichtet, der irgendwo über dem Tisch schwebte.
    «Alma», sagte die harsche Stimme des Kapitäns, «Alma wird durch Constance sprechen.»
    Die Teilnehmer hielten die Luft an; ich spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken sträubten. Mrs   Veasey fuhr heftig zusammen, und schien sich ihrer Umgebung bewusst zu werden.
    «Miss Langton», sagte sie heiser, «Sie müssen tun, was er gebietet. Schließen Sie die Augen und beschwören Sie das Bild Ihrer Schwester herauf.»
    Ihre Stimme war nachdrücklich, gebieterisch; ich konnte nicht sagen, ob sie in diesem Moment spielte oder nicht. Ich schloss die Augen, spürte die Hand meines Nachbarn in der meinen zittern und versuchte, meine Gedanken auf Alma zu konzentrieren. Bald wurde ich einer schwachen summenden Vibration gewahr, die durch meine Arme und meinen Körper lief.
    «Ich kann die Kraft spüren», sagte Mrs   Veasey. «Ist hier jemand?»
    Es sind nur Nägel und Nadeln, sagte ich mir selbst angstvoll und mit dem Wunsch, die Vibration möge aufhören. Aber es schien mir, als würden Worte in meiner Kehle emporsteigen, die mich zu ersticken drohten, wenn ich nicht zu sprechen begänne. Und um der Empfindung zuvorzukommen, begann ich in meiner Alma-Stimme Laute zu der Melodie von «All Things Bright and Beautiful» zu singen, wie ich es den anderenAbend getan hatte, und langsam ließ die Spannung nach, und meine Hände hörten auf zu zittern.
    «Alma», sagte Mrs   Veasey, «erzähl uns, warum du gekommen bist.» Ihre Stimme war nicht mehr heiser.
    «Für Mama», piepste ich.
    «Du hast eine Nachricht für deine Mama?»
    «Sag Mama   …», ich hielt inne, während ich fieberhaft nachdachte. «Sag Mama   … bin sicher im Himmel. Sag Mama, sie soll herkommen.»
    «Das werden wir tun. Und – möchtest du mit jemand anderem sprechen?»
    Ich antwortete nicht, sondern verfiel wieder in meinen Gesang, den ich langsam ausklingen ließ. Einige
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