Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
Vom Netzwerk:
meinen Mut zusammen und ging in die Lamb’s Conduit Street, wo ich nach einigem Suchen gleich neben einem Hutmacher eine Tür mit der Aufschrift «Holborn Spiritistische Gesellschaft» in verblassten goldenen Lettern sah. Ich stand so lange unschlüssig vor dem Laden, dass der Hutmacher herauskam. Als ich sagte, dass ich zu Mrs   Veasey wollte, verwies er mich auf ein anderes Haus, ein Stück die Straße hinunter. Dort bat mich ein Hausmädchen, das aussah, als wäre es nicht älter als zehn Jahre, zu warten, und nach kurzer Zeit kam eine korpulente grauhaarige Frau, ganz in Schwarz gekleidet, heraus.
    «Was führt Sie hierher, meine Liebe?», sagte sie in einem Dialekt, der mich ein bisschen an Annie erinnerte. Ich begann sehr zögerlich von Alma und Mama zu erzählen, woraufhin sie vorschlug,zum Waisenhaus zu gehen, dort säße sie gerne und sähe den Kindern zu. Etwas in der Art, wie sie das sagte, brachte mich auf den Gedanken, dass vielleicht auch sie ein Kind verloren hatte, aber als ich mich durchrang, sie danach zu fragen, verneinte sie. Sie habe nie Kinder gehabt. Ihr Mann, ein Kapitän, war vor beinahe zwanzig Jahren vor Westindien ertrunken.
    «Er besucht mich immer noch manchmal», sagte sie. «Aber man kann Geistern nichts befehlen, wissen Sie.»
    Sie seufzte und tätschelte meine Hand. Sie war eine einfache Frau, wirkte mütterlich und glich so gar nicht meiner Vorstellung von einem Medium. Während des Spaziergangs erzählte ich ihr von Papas Abreise und davon, wie er uns jeden Kontakt zum Spiritismus verboten hatte, und als wir bei der Engelskulptur angekommen waren, hatte ich beschlossen, mich ihr ganz und gar anzuvertrauen, bis hin zu meinem vergeblichen Versuch, Alma herbeizurufen.
    «Ich weiß, dass es falsch war, sie zu täuschen», sagte ich, «aber Mama ist schon seit so langer Zeit so unglücklich, und ich glaube, sie würde sich erholen, wenn sie nur wüsste, dass Alma sicher im Himmel ist.»
    «Sie brauchen sich nicht zu verteidigen. Und es war ja der Geist Ihrer Schwester, der Sie dazu bewog, zu sprechen; Sie mögen die wahre Gabe in sich haben, ohne es zu wissen.»
    «Wie wüsste ich es denn, wenn ich sie hätte?», fragte ich mit einigem Unbehagen.
    «Sie würden es spüren   … man fühlt sich wie eingenommen   … sie sind so stark, manchmal denkt man, sie schütteln einen in Stücke. Und dann, wenn sie einen verlassen, fühlt man sich wie ausgeleert   … wie eine Schüssel, benutzt und weggeworfen   … Als ich jung war, wie Sie, war ich von ihrem Licht erfüllt   … jetzt kommen sie kaum mehr. Aber man vergisst es nicht, meine Liebe, niemals.»
    Sie tätschelte wieder meine Hand und seufzte, und ich spürte, wie mir Tränen in die Augen traten.
    «Aber wenn sie nicht zu Ihnen kommen   –», brachte ich hervor. Mrs   Veasey antwortete nicht gleich. Auf der anderen Seite des Zauns standen die Waisenmädchen in kleinen Gruppen von zwei, drei oder vier beisammen oder spielten Seilspringen. Es hätten dieselben Mädchen sein können, denen Annie und ich vor zehn Jahren zugesehen hatten.
    «Wir müssen Menschen wie Ihrer armen Mutter helfen zu glauben», sagte sie schließlich. Es gibt kein Medium in London, das nicht auch manchmal vortäuscht. Und wie kann es falsch sein, denen, die trauern, Trost zu spenden?»
    «Müssen die Leute für die Teilnahme an Ihren Séancen bezahlen?»
    «Meine Güte, nein! Am Ende machen wir eine kleine Sammlung, und wer es sich leisten kann, gibt etwas. Aber niemand Bedürftiges wird je weggeschickt.»
    «Mrs   Veasey», sagte ich nach einer Pause, «haben Sie je einen Geist
gesehen

    «Nein, meine Liebe, nicht mit diesen Augen. Das ist mir nicht gegeben. Aber wissen Sie, Sie haben so etwas   … Es würde mich gar nicht wundern, wenn Sie erwählt wären.»
    «Aber ich möchte nicht erwählt sein», sagte ich. «Ich möchte nur, dass Mama wieder glücklich ist.»
    «Das ist das Zeichen einer wahren Gabe, meine Liebe, sie nicht zu wünschen. Und was Ihre Mutter betrifft: Warum bringen Sie sie morgen nicht zu unserem Treffen?»
    «Mama hat das Haus seit Jahren nicht verlassen», sagte ich, «aber ich würde gerne selbst kommen, wenn ich darf.»
     
    Am nächsten Abend ging ich daher um halb sieben aus dem Haus. Mama sagte ich, ich hätte Kopfschmerzen und wolle spazieren gehen. Sie versank in ihrem alten leeren Elend, aber ich wollte nicht riskieren, Almas Geist ein weiteres Mal anrufen zu müssen, ehe ich Mrs   Veasey eine Séance hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher