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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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Momente später gab ich vor zu erwachen.
     
    ∗∗∗
     
    Drei Tage später trat meine Mutter blinzelnd ans Tageslicht. Sie war noch keine sechzig, aber sie hätte gut meine Urgroßmutter sein können. In ihrem rostbraunen, durchgescheuerten Hauskleid klammerte sie sich fest an meinen Arm. Als sie um sich blickte, hatte sie einen verwirrten Gesichtsausdruck, der erstaunlich wenig Neugier zeigte. Mir wurde klar, dass sie nicht viel sehen konnte von dem, was ich ihr zeigte. Sie war so kurzsichtig geworden, dass ihre Welt auf einen Umkreis von wenigen Metern geschrumpft war.
    Mrs   Veasey hatte mir unter vier Augen gesagt, sie sei sicher, dass Alma erneut durch mich würde sprechen wollen. Und so geschah es. Ich fühlte, wie die Hand meiner Mutter in der meinen zitterte, als ich in meiner Alma-Stimme zu singen begann. Und obgleich sie mehr oder minder dieselben Fragen stellte und mehr oder minder dieselben Antworten erhielt wie am ersten Abend im Wohnzimmer, weinte sie doch vor Freude, auch noch über die Sitzung hinaus. Wir unterhielten uns nochein bisschen mit Mr und Mrs   Ayrton, die ihre beiden Söhne während der Cholera verloren hatten, und luden sie für die nächste Woche zum Tee ein. Alles schien in Ordnung zu sein.
    Und so blieb es auch für einige Zeit. Mama war von Alma besessen, so sehr, dass sie alles andere vergaß: Eine Brille lehnte sie ab, da sie doch nichts zu erkennen brauchte. Meine Freude, sie in Gesellschaft anderer zu sehen, ließ mich außer Acht lassen, dass alle Gespräche sich um die schmerzlichen Verluste in dieser Welt und die glückliche Vereinigung in der jenseitigen drehten. Der Zirkel traf sich zweimal in der Woche, und zwischen den Séancen saß ich manchmal mit Mrs   Veasey auf der Bank vor dem Waisenhaus. Sie wies mich in die Kunst des Mediums ein, immer in dem Verständnis, dass wir lediglich den Geistern Hilfe leisteten. Und sie schlug Nachrichten vor, die Alma den anderen Mitgliedern übermitteln könnte. Mir wurde langsam klar, dass sie mich als ihre Nachfolgerin gewählt hatte, wobei ich mir nie über ihre Motive im Klaren war, genauso wenig, wie ich wusste, ob sie an die Geister glaubte oder nicht: Ich nehme an, dass es für sie, ebenso wie für mich, Augenblicke gegeben hatte, in denen sie die Ahnung einer Kraft verspürte, schwebend und ungewiss, Augenblicke, die einen überkamen, wenn man es am wenigsten erwartete.
    Es gab, darauf bestand sie, eine Seelenverwandtschaft zwischen uns. Aber mir war auch klar, dass wir aufgrund gegenseitiger Abhängigkeit aneinander gebunden waren. Keine von uns konnte es sich leisten, die andere bloßzustellen, und manchmal fragte ich mich, ob das der Grund dafür war, dass sie mich gewählt hatte. Mir fiel auch auf, dass sich mit der Entwicklung unserer Zusammenarbeit die Spendenbeiträge erhöhten, wobei alles Geld natürlich an Mrs   Veasey ging. Zwar plagte mich mein Gewissen immer wieder, aber die Täuschung war ja nicht bösartig, geschah sie doch um meiner Mutter willen. Unsere Gesellschaft war alles andere als vornehm. Sie nahm sowohl verarmte Adelsleute als auch angesehene Haushälterinnen, Leuteam Rande ihres Standes, auf. Die meisten der Mitglieder, Mama eingeschlossen, wollten glauben, oder waren vielmehr fest entschlossen zu glauben, was immer das Medium ihnen sagte. Dank Mrs   Veaseys Unterstützung gewann ich ein Ansehen, das mich zugleich in Hochstimmung versetzte und erschreckte. Ich genoss die Macht, ich muss es gestehen, die es mir verlieh, genoss es, dass erwachsene Männer und Frauen meinen Worten lauschten. Und manchmal – wobei ich mir dessen nie ganz gewiss war – fühlte ich, dass meine vorgegebene Trance zu einer wirklichen wurde. Die Geräusche wurden lauter: das Knacken der Kohle im Kamin, das schwache Keuchen von Mr   Carmichaels asthmatischem Atmen, bis mir das Blut regelrecht in den Ohren brauste. Und dann formten sich die Geräusche langsam zu Worten, oder eher zu Schatten von Worten, wie ein Gespräch, das einem aus weiter Ferne ans Ohr dringt. Und dennoch, je mehr ich das praktizierte, desto weniger glaubte ich an so etwas wie ein Reich der Geister, das wir mit solcher Gewissheit anriefen.
    Ich hatte gehofft, Mama würde mit regelmäßigen Nachrichten von Alma zufrieden sein. Aber als der Herbst voranschritt und die Tage kürzer wurden, kehrte der alte gequälte Ausdruck wieder in ihre Augen zurück. Wie konnte sie sich sicher sein, fragte sie dann, dass es wirklich Alma war, die da sprach. Und warum
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