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Ruf der Wildnis

Ruf der Wildnis

Titel: Ruf der Wildnis
Autoren: Jack London
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Hütte, und mitten unter verfaulten Decken lag ein langschäftiges Zündnadelgewehr. Es war ein Erzeugnis der Hudson-Bay-Kompanie aus jener längst vergangenen Zeit, als diese Gewehre noch mit Gold aufgewogen wurden. Nichts sonst war zu finden, nicht der kleinste Hinweis auf den Mann, der diese Hütte errichtet und die Büchse unter den Decken zurückgelassen hatte.
    Im nächsten Frühling hatten sie zwar die Hütte noch immer nicht gefunden, dafür aber ein breites Tal, über dessen Sohle eine Schicht Sand, vermischt mit Gold, lagerte. Sie suchten nicht weiter. An jedem Arbeitstag verdienten sie Tausende von Dollars an reinem Staub oder kleinen Goldkörnern. Das Gold wurde in Säcke aus Elchhaut geschüttet, fünfzig Pfund in jeden Sack, und sie stapelten es wie Brennholz an der Hüttenwand auf.
    Sie schufteten wie Zwangsarbeiter, und die Tage vergingen ihnen wie im Traum.
    Die Hunde hatten in dieser Zeit nichts zu tun. Sie brachten Thorntons Jagdbeute ins Lager, und damit war ihre Arbeit getan. Buck lag endlose Stunden beim Feuer. Die Vision des kurzbeinigen, behaarten Mannes erschien ihm jetzt häufiger. Und wenn Buck schläfrig in die Flammen blinzelte, wanderte er mit dem haarigen Mann in jene andere Welt, die nur in seiner Erinnerung lebte.
    Diese andere Welt beherrschte die Angst. Der haarige Mann schlief beim Feuer mit dem Kopf zwischen den Knien, die Hände darüber gefaltet. Buck sah, wie er immer wieder, aus dem Schlaf aufgeschreckt, angsterfüllt ins Dunkel starrte und mehr Holz in die Flammen warf. Gingen sie über den Strand am Meer, wo der haarige Mann nach Muscheln suchte und sie sofort roh aß, dann wanderten die Augen des Mannes unruhig umher, und er war stets bereit, beim ersten Zeichen einer Gefahr wie der Wind davonzurennen. Lautlos krochen sie durch den Wald, Buck an den Fersen des Mannes, und sie waren gleich wachsam und gleich angespannt, und der haarige Mann konnte genau so gut hören und riechen wie Buck. Der haarige Mann sprang auch auf Bäume, schwang sich von Ast zu Ast und kam dort ebenso schnell vorwärts wie am Boden. Niemals machte er einen falschen Griff, und er war dort, hoch oben in den Bäumen, zu Hause wie auf der Erde.
    Und mit der Vision dieses merkwürdigen Menschen aus einer alten Zeit kam zu Buck wieder der Ruf aus den Tiefen der Wälder. Er weckte in Buck eine große Unruhe und eine seltsame, glückliche Sehnsucht. Er hörte ihn ganz deutlich, und ein wildes Verlangen nach irgend etwas, das er noch nicht kannte, packte ihn.
    Er lief dem Ruf nach, suchte ihn, als wäre er ein greifbares Wesen, und bellte sanft, werbend oder herausfordernd, je nach seiner Laune. Oft bohrte er seine Nase in das kühle Waldmoos oder in den schwarzen Humus, aus dem lange Gräser wuchsen, und schnaubte vor Freude über den Geruch der fetten Erde; er kroch stundenlang zwischen schwammbewachsenen, geheimnisvollen Strünken gestürzter Bäume umher mit weit offenen Augen und Ohren, und nichts, was sich um ihn bewegte, entging ihm. Er wollte diesen Ruf ergründen, ihn kennenlernen. Buck wußte nicht, warum er dies alles tat, und er dachte auch nicht darüber nach. Der Trieb in ihm zwang ihn unwiderstehlich.
    Oft lag er träge vor dem Zelt und döste in der Tageshitze, plötzlich hob er den Kopf, die Ohren spitzten sich, und er mußte aufspringen und fortlaufen. Er lief stundenlang, er lief über Lichtungen und offene Plätze, wo Schwarzbeeren in dichten Büscheln wuchsen. Er folgte den trockenen Wasserläufen und spürte dem Vogelleben nach. Manchen Tag lag er im Unterholz und sah den Rebhühnern zu, wie sie aufschwirrten und umherstolzierten. Aber mehr als all das liebte er es, im matten Zwielicht der Sommermitternächte umherzustöbern, wenn das Leben in den Wäldern zu einem friedlichen und gedämpften Murmeln geworden war. Und immer suchte er nach der geheimnisvollen Stimme, die ihn rief – rief, wenn er wach war und wenn er schlief, und die er immer hörte und nie fand.
    Eines Nachts schreckte er aus dem Schlaf auf, er zitterte am ganzen Leib, und seine Rückenhaare sträubten sich. Vom Wald her kam ein Ruf, deutlich und bestimmt wie nie zuvor – ein langgezogenes Heulen, ähnlich dem Heulen der Polarhunde und doch ganz anders. Und Buck erkannte den Ruf wie eine altvertraute Stimme. Er rannte durch das schlafende Lager und brach lautlos in das Gehölz ein. Je näher der Ruf kam, desto vorsichtiger und langsamer schlich er, bis er auf einer Lichtung einen langen, abgemagerten Wolf traf, der
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