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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot
Autoren: Kerstin Gier
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meine vorstehenden Vorderzähne gebändigt und mir das Häschenähnliche genommen hatte. Auch wenn ich natürlich längst nicht so »liebreizend und voll bezaubernder Anmut« war wie Charlotte, um mit James zu sprechen. Ha, ich wünschte, er könnte sie in diesem Sackkleid sehen.
    »Gwendolyn, Engelchen, möchtest du ein Zitronenbonbon?« Großtante Maddy klopfte auf den Schemel neben sich. »Setz dich doch zu mir und lenk mich ein bisschen ab. Glenda macht mich schrecklich nervös mit ihrem Hin- und Hergerenne.«
    »Du hast ja keine Ahnung von den Gefühlen einer Mutter, Tante Maddy«, sagte Tante Glenda.
    »Nein, das habe ich wohl nicht«, seufzte Großtante Maddy. Sie war die Schwester meines Großvaters und sie war nie verheiratet gewesen. Sie war eine rundliche, kleine Person mit fröhlichen blauen Kinderaugen und goldblond gefärbten Haaren, in denen nicht selten ein vergessener Lockenwickler steckte.
    »Wo ist denn Lady Arista?«, fragte ich, während ich mir ein Zitronenbonbon nahm.
    »Sie telefoniert nebenan«, sagte Großtante Maddy. »Aber so leise, dass man leider kein Wort verstehen kann. Das war übrigens die letzte Dose Bonbons. Du hättest nicht zufällig Zeit, zu Selfridges zu laufen und neue zu besorgen?«
    »Klar«, sagte ich.
    Charlotte verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und sofort fuhr Tante Glenda herum. »Charlotte?«
    »Nichts«, sagte Charlotte.
    Tante Glenda kniff ihre Lippen zusammen.
    »Solltest du nicht besser im Erdgeschoss warten?«, fragte ich Charlotte. »Du würdest dann nicht so tief fallen.«
    »Solltest du nicht besser die Klappe halten, wenn du von Dingen überhaupt keine Ahnung hast?«, fragte Charlotte zurück.
    »Wirklich, das Letzte, was Charlotte im Augenblick gebrauchen kann, sind blöde Bemerkungen«, sagte Tante Glenda.
    Ich fing an zu bereuen, heruntergekommen zu sein.
    »Beim ersten Mal springt der Gen-Träger nie weiter zurück als hundertfünfzig Jahre«, erklärte Großtante Maddy liebenswürdig. »Dieses Haus ist 1781 fertiggestellt worden, hier im Musikzimmer ist Charlotte also absolut sicher. Sie könnte höchstens ein paar musizierende Ladys erschrecken.«
    »In dem Kleid bestimmt«, sagte ich so leise, dass nur meine Großtante mich hören konnte. Sie kicherte.
    Die Tür flog auf und Lady Arista kam herein. Sie sah wie immer aus, als habe sie einen Stock verschluckt. Oder auch mehrere. Einen für ihre Arme, einen für ihre Beine und einen, der in der Mitte alles zusammenhielt. Die weißen Haare waren straff aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem Knoten gesteckt, wie bei einer Ballettlehrerin, mit der nicht gut Kirschen essen war. »Ein Fahrer ist unterwegs. Die de Villiers erwarten uns in Temple. Dann kann Charlotte bei ihrer Rückkehr gleich in den Chronografen eingelesen werden.«
    Ich verstand nur Bahnhof.
    »Und wenn es heute noch gar nicht passiert?«, fragte Charlotte. »Charlotte, Liebes, dir war schon dreimal schwindelig«, sagte Tante Glenda.
    »Früher oder später
wird
es passieren«, sagte Lady Arista. »Kommt jetzt, der Fahrer wird jeden Augenblick hier sein.«
    Tante Glenda nahm Charlottes Arm und zusammen mit Lady Arista verließen sie den Raum. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, sahen Großtante Maddy und ich uns an.
    »Manchmal könnte man denken, man sei unsichtbar, nicht wahr?«, sagte Großtante Maddy. »Wenigstens ein
Auf Wiedersehen
oder ein
Hallo
ab und an wäre doch nett. Oder auch ein kluges
Liebe Maddy, hattest du vielleicht eine Vision, die uns weiterhelfen könnte?«
    »Hattest du eine?«
    »Nein«, sagte Großtante Maddy. »Gott sei Dank nicht. Ich kriege nach den Visionen immer so schrecklichen Hunger und ich bin ohnehin zu fett.«
    »Wer sind die de Villiers?«, fragte ich.
    »Ein Haufen arroganter Schnösel, wenn du mich fragst«, sagte Großtante Maddy. »Alles Anwälte und Bankiers. Sie besitzen die Privatbank de Villiers in der City. Wir haben unsere Konten dort.«
    Das klang herzlich wenig mystisch.
    »Und was haben die Leute mit Charlotte zu tun?«
    »Sagen wir mal, sie haben ähnliche Probleme wie wir.«
    »Welche Probleme?« Mussten sie auch mit einer tyrannischen Großmutter, einer biestigen Tante und einer eingebildeten Cousine unter einem Dach wohnen?
    »Das Zeitreise-Gen«, sagte Großtante Maddy. »Bei den de Villiers vererbt es sich an die männlichen Nachkommen.«
    »Sie haben also auch eine Charlotte zu Hause?«
    »Das männliche Gegenstück dazu. Er heißt Gideon, soviel ich
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