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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot
Autoren: Kerstin Gier
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Veilchenparfüm und dem Qualm von Lady Aristas Zigarillos. Gelüftet wurde viel zu selten. Es wurde einem ganz schummrig, wenn man sich länger dort aufhielt.
    Mr Bernhard schloss die Haustür. Ich warf noch einen schnellen Blick an ihm vorbei auf die andere Straßenseite. Der Mann mit dem Hut war immer noch da. Täuschte ich mich oder hob er gerade die Hand, beinahe so, als ob er jemandem zuwinkte? Mr Bernhard vielleicht oder am Ende sogar mir?
    Die Tür fiel zu und ich konnte den Gedanken nicht zu Ende verfolgen, weil urplötzlich das Achterbahngefühl von vorhin in meinen Magen zurückkehrte. Alles vor meinen Augen verschwamm. Meine Knie gaben nach und ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht zu fallen.
    Im nächsten Moment war es auch schon wieder vorbei.
    Mein Herz klopfte wie verrückt. Irgendwas stimmte nicht mit mir. Ohne Achterbahn wurde einem nicht zweimal innerhalb von zwei Stunden schwindelig.
    Es sei denn . . . ach Unsinn! Wahrscheinlich wuchs ich zu schnell. Oder ich hatte ... ähm ... einen Gehirntumor? Oder vielleicht einfach nur Hunger.
    Ja, das musste es sein. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Das Mittagessen war ja auf meiner Bluse gelandet. Erleichtert atmete ich auf.
    Jetzt erst bemerkte ich, dass Mr Bernhards Eulenaugen mich aufmerksam musterten.
    »Hoppla«, sagte er, reichlich spät.
    Ich spürte, wie ich rot wurde. »Ich geh dann mal... Hausaufgaben machen«, murmelte ich.
    Mr Bernhard nickte mit gleichgültiger Miene. Aber während ich die Treppe hinaufging, spürte ich seine Blicke in meinem Rücken.
     
    Aus den Annalen der Wächter 10. Oktober 1994
     
    Zurück aus Durham, wo ich Lord Montroses jüngste Tochter Grace Shepherd besucht habe, die überraschenderweise vorgestern schon von ihrer Tochter entbunden wurde. Wir freuen uns alte über die Geburt von
     
    Gwendolyn Sophie Elizabeth Shepherd 2460 g, 52 cm.
     
    Mutter und Kind sind wohlauf. Unserem Großmeister zum fünften Enkelkind unsere herzlichsten Glückwünsche.
     
    Bericht: Thomas George, Innerer Kreis
     

2 .
    Leslie nannte unser Haus »einen vornehmen Palast« wegen der vielen Zimmer, Gemälde, Holzvertäfelungen und Antiquitäten. Sie vermutete hinter jeder Wand einen Geheimgang und in jedem Schrank mindestens ein Geheimfach. Als wir noch jünger waren, gingen wir bei jedem ihrer Besuche auf Entdeckungsreise durch das Haus. Dass uns das Herumschnüffeln streng verboten worden war, machte es erst recht spannend. Wir entwickelten immer ausgebufftere Strategien, um uns nicht erwischen zu lassen. Im Laufe der Zeit hatten wir wirklich einige Geheimfächer und sogar eine Geheimtür gefunden. Sie lag im Treppenhaus hinter einem Ölgemälde, auf dem ein dicker Mann mit Bart und gezücktem Degen auf einem Pferd saß und grimmig guckte.
    Bei dem grimmigen Mann handelte es sich laut Auskunft von Großtante Maddy um meinen Urururururgroßonkel Hugh und seine Fuchsstute mit Namen Fat Annie. Die Tür hinter dem Bild führte zwar nur ein paar Stufen hinab in ein Badezimmer, aber geheim war sie deshalb irgendwie trotzdem.
    »Du bist ja so ein Glückspilz, dass du hier wohnen darfst!«, sagte Leslie immer.
    Ich fand eher, dass Leslie ein Glückspilz war. Sie wohnte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und einem zotteligen Hund namens Ber-tie in einem gemütlichen Reihenhaus in North Kensington. Da gab es keine Geheimnisse, keine unheimlichen Diener und keine nervenden Verwandten.
    Früher hatten wir auch mal in so einem Haus gewohnt, meine Mum, mein Dad, meine Geschwister und ich, in einem kleinen Haus in Durham, in Nordengland. Aber dann war mein Dad gestorben. Meine Schwester war gerade ein halbes Jahr alt gewesen und Mum war mit uns nach London gezogen, wahrscheinlich weil sie sich einsam gefühlt hatte. Vielleicht war sie auch mit dem Geld nicht hingekommen.
    Mum war in diesem Haus hier groß geworden, zusammen mit ihren Geschwistern Glenda und Harry. Onkel Harry lebte als Einziger nicht in London, er wohnte mit seiner Frau in Gloucestershire.
    Zuerst war mir das Haus auch wie ein Palast vorgekommen, genau wie Leslie. Aber wenn man einen Palast mit einer großen Familie teilen muss, kommt er einem nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr so groß vor. Zumal es jede Menge überflüssige Räume gab, wie den Ballsaal im Erdgeschoss, der sich über die gesamte Hausbreite erstreckte.
    Hier hätte man toll skaten können, aber das war verboten. Der Raum war wunderschön mit seinen hohen Fenstern, den Stuckdecken und den
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