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Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)

Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)

Titel: Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Autoren: Kerstin Signe Danielsson , Roman Voosen
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in ihre Handtasche, für später. Ihr Mann war jetzt auch so weit. Er hatte sich bereits in der Kirche umgezogen, der braune Anzug stand ihm nach all den Jahren immer noch gut, fand sie, auch wenn er um den Bauch herum zugelegt hatte. Vögel zwitscherten. Ein Kuckuck rief. Was für ein Tag zum Heiraten! Langsam setzte sich die Hochzeitsgesellschaft in Bewegung.
    Angesichts des sonnigen, windstillen Wetters waren die Tische im Garten des Seegrundstücks aufgebaut. Der Ausblick auf den Helgasee war etwas Besonderes: Silber und blau, majestätisch funkelte das weitläufige Gewässer in der Junisonne. Ingrid Nyström konnte sich nicht entsinnen, wann sie das letzte Mal in einem solch prächtigen Naturambiente gefeiert hatte: Die langen Tafeln waren weiß eingedeckt, Kellnerinnen mit weißen Schürzen hantierten mit Kaffee, Torten und Dessertwein. Es gab kaligrafisch ausgefeilte Platzkärtchen aus Büttenpapier, Blumengestecke und eine elegante Tischdekoration. Eine Band aus Värnamo in lachsfarbenen Anzügen spielte Klassiker. Die ersten tanzten, junge Leute mit Sonnenbrillen, wahrscheinlich Freunde des Brautpaares aus der Stadt. Es gab zwei Zeremonienmeister, die zwischen den vielen Musikstücken, Reden und Spielen moderierten; der eine war ein Jugendfreund des Bräutigams, ein dicklicher Nordschwede, den die eigens gedruckte Festbroschüre als Sitznummer 12, Arvid Appelgreen auswies; der andere war Ingrid Nyströms jüngste Tochter Anna. Obwohl ihr die pink gefärbten Haare missfielen, musste sie zugeben, dass ihre neunzehnjährige Tochter den Job als Moderatorin ausgezeichnet erledigte. Da, wo der leicht tumbe Appelgreen die Pointen zu vergeigen drohte oder ins Stocken geriet, sprang Anna mit ihrem småländischen Wortwitz und Charme in die Bresche. Ingrid Nyström konnte nicht umhin, einen gewissen Mutterstolz zu empfinden. Dann fiel ihr Blick zum wiederholten Mal auf Tischposition 81. Die 81 war eine gut aussehende, junge Frau in einem geschmackvollen, geblümten Kleid. Die Festbroschüre wies Nr. 81 als Madeleine Tedenlid aus, Friseurschülerin aus Växjö, Lebensgefährtin von Nr. 24. Genau darin lag eins von Ingrid Nyströms Problemen. Nr. 24 war ihre Tochter Anna.
    2
    Das zweite Problem, das Ingrid Nyström seit zwei Wochen mit sich herumtrug, war weitaus ernst zu nehmender. Im Gegensatz zum kürzlich erfolgten Outing ihrer Tochter war dieses Problem keines, von dem sie hoffen konnte, dass sie sich damit im Laufe der Zeit schon würde arrangieren können. Im Gegenteil. Es war eine gewisse Eile erforderlich und sie hatte die Dinge schon viel zu lange aufgeschoben. Nur konnte sie unmöglich damit beginnen, die entsprechenden Schritte einzuleiten, ohne vorher mit Anders darüber zu sprechen. Und darin lag Problem Nummer drei. Sie wusste nicht, wie. Sie fand keine Worte dafür. Sie fand keine Worte, weil sie es selbst nicht begriff. Es gab da etwas, das mit dem Verstand nicht zu greifen war. Etwas Metaphysisches, das Anders so nicht hinnehmen würde, etwas, das er sich weigern würde zu glauben, weil es mit seinem Weltbild, nein, mit seinem Glaubensbild kollidierte. Er würde es falsch finden, und das zu Recht. Das konnte sie nicht von ihm verlangen.
    Und trotzdem war es wahr.
    3
    Dämmerung lag über dem See. Es war jetzt weit nach Mitternacht. Das Wasser schien zu leuchten. Ein dunkles Schimmern. Ingrid Nyström saß auf dem Steg, abseits der Feier, neben ihr die Pumps und ein letztes Glas Wein. Die Band spielte jetzt nur noch alte Hits, Queen und ABBA natürlich, niemand war mehr nüchtern, die Kinder waren längst im Bett, junge Leute jubelten in der Nacht. Dann war Anders neben ihr, er legte ihr das Jackett über die Schulter, eine zärtliche Geste, dachte sie, und weil sie noch immer einen Hauch von Waschbenzin roch, musste sie lächeln. Auf Anders Glatze spiegelte sich der Schein des hellen Nachthimmels, er schwitzte, vom Tanzen und vom Alkohol, sie mochte diesen Geruch. In ihrem Herzen regten sich Wärme und Vertrauen, die über mehr als drei Jahrzehnte gewachsen waren.
    »Da ist doch etwas, das du mir sagen willst.«
    Seine Stimme war einladend und beinahe hätte sie ihr nachgegeben.
    »Vielleicht später«, sagte sie leise und legte ihren Kopf an seine Brust.

SONNTAG
    1
    Ingrid Nyström fuhr ihren kleinen Toyota durch Sandsbro, von der Landstraße 23 auf die 897, nördlich in Richtung Rottne und Söraby. Nach einigen Kilometern zweigte links der Gamla Rottnevägen ab, sie folgte der schmalen Straße, die
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