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Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)

Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)

Titel: Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Autoren: Kerstin Signe Danielsson , Roman Voosen
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einen Tunnel in die hoch aufragenden Fichten schnitt, bis sie auf eine ebenso schmale Querstraße traf, die sie zu einem alten Gutshaus am Ostufer des Helgasees führte, Humlehöjden. Hier öffnete sich der dichte Wald und gab den Blick auf den großen See frei, der still in der Morgensonne lag. Auf dem geschotterten Parkplatz vor dem ehemaligen Herrenhaus, das seit zwei Jahrzehnten als Pension und Tagungszentrum genutzt wurde, standen mehr als dreißig Fahrzeuge, darunter vier Streifenwagen, an einem lehnten uniformierte Kollegen, das Blaulicht auf dem Dach blinkte sinnlos vor sich hin. Sie erkannte den VW-Transporter der Spurensicherung und Lars Knutssons riesigen, amerikanischen Wagen mit Ladefläche. Sie stellte ihr Auto ab und stieg aus. Es war erst kurz nach neun, trotzdem brannte die Sonne schon auf der Haut. Bis in den April hinein hatte es Eis auf dem See gegeben, den Mai hindurch hatte es geregnet und jetzt war plötzlich Sommer. Vor der breiten Treppe, die auf die Veranda und zum Eingang des hellblau gestrichenen Holzgebäudes führte, stand ein Mitsubishi-Kombi mit eingedrückter Beifahrertür und fehlendem Außenspiegel, an der Hauswand daneben lehnte ein rotes Mountainbike. Anette Hultin und Hugo Delgado waren also ebenfalls bereits eingetroffen. Sie ging die Stufen hinauf, schob die Sonnenbrille in ihr Haar, nickte dem Streifenbeamten auf der Veranda zu und trat durch die Eingangstür ins Foyer.
    Die unbesetzte Rezeption öffnete sich nach wenigen Schritten zu einem großen Speisesaal. In dem sonnendurchfluteten Raum saßen mehr als fünfzig Personen zu Tisch, unterhielten sich angeregt, standen in kleinen Gruppen beieinander oder wuselten mit beladenen Tellern durch die Reihen.
    Das Merkwürdige daran war, dass, abgesehen von zwei älteren Kellnerinnen am Frühstücksbuffet, keiner der Anwesenden normal aussah. Was sie sah, waren Wikinger, Ritter und barfüßige Mönche in braunen Kutten. Elben und Elfen. Ein Burgfräulein mit einem gewagten Dekolleté. Ein Zwerg. Männer in Lederwämsen. Jemand trank Kaffee aus einem Horn, Käse wurde mit einem Kurzschwert zerteilt. Sie war auf einem Kostümfest gelandet. Dann sah sie das Banner an der Wand:
    Elftes Jahrestreffen für historisches Bogenschießen
stand dort in runenartigen Buchstaben auf dunklem Tuch. Jetzt sah sie auch die Sportbögen, die überall herumlagen. Köcher voller Pfeile. Eine Armbrust neben einer Aufschnittplatte. Und irgendwo hier gab es auch einen Toten.
    Plötzlich stand Delgado neben ihr und fasste sie am Arm. Er sah angespannt aus.
    »Es ist draußen, ein Stück in den Wald hinein.«
    Delgado führte sie durch eine Großküche ins Freie. Der Rasen hinter dem Herrenhaus war noch feucht vom Morgentau und fiel zur Uferkante hin leicht ab. Das Wasser schillerte. Ein leichter Wind kam vom Westufer her, perlte im Blattwerk der Obstbäume. In der Ferne zog das historische Dampfschiff Thor in Richtung der nördlichen Schleuse vorbei. Noch mal historisch. Es gibt seit Jahren diesen Nostalgietrend in Schweden, dachte sie flüchtig, vielleicht ja auch woanders. Ist das Jetzt denn so abscheulich, dass wir uns in eine andere Zeit zurückwünschen?
    Ein Stück in den Wald hinein hatte Delgado gesagt. Sie folgten einem Pfad, der in die dicht stehenden Fichten führte. Hier roch es nach warmem Waldboden. Delgado schwieg noch immer. Das musste nichts heißen, vielleicht aber doch. Trotzdem fragte sie nicht nach, sie wollte zuerst sehen. Die unverrückbaren Fakten, keine Interpretationen. Beinahe musste sie lächeln. Unverrückbare Fakten. Als gäbe es so etwas überhaupt.
    Sie waren dem verwachsenen Pfad ein Stück durch die Nadelbäume gefolgt, nicht weit, fünfzig oder siebzig Meter vielleicht. Die hohen Äste der Bäume bildeten ein dichtes Dach. Der Boden war feucht, in einigen Monaten würden hier haufenweise Pfifferlinge wachsen und große Karl-Johan-Pilze. Schließlich öffneten sich die Fichten zu einer ovalen Lichtung. Dort sah sie ihn.
    Der Leichnam des Mannes war aufrecht an einen Baumstamm gelehnt. Die hellgraue Haut des nackten Körpers hob sich vom dunklen, feuchten Holz eines abgestorbenen Baumstamms ab. Sie ging näher heran und sah die Pfeile, die in dem Leichnam steckten dünne, armlange Metallpfeile, ein Dutzend, vielleicht auch mehr. Vier davon ragten aus dem Kopf des Toten, aus dem linken Auge, aus dem Mund, aus der rechten Wange. Ein Pfeil hatte das rechte Ohr durchdrungen, er hing dort wie bizarrer Modeschmuck.
    Andere Pfeile
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