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Rott sieht Rot

Rott sieht Rot

Titel: Rott sieht Rot
Autoren: Oliver Buslau
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von Juttas Pförtchen. Schon von unten war zu erkennen, dass hinter der Panoramascheibe ihres gigantischen Wohnzimmers gedämpftes Licht herrschte. Während ich mich die vierundfünfzig Stufen zum Eingang hinaufkämpfte, dachte ich darüber nach, was wohl in sie gefahren sein mochte.
    Verwandtschaftlich gesehen war Jutta meine Tante. Da ich aber von meinem sechzehnten Lebensjahr an bei ihr gelebt hatte, hatte sie noch etwas die Erzieherrolle übernommen. Allerdings fehlte ihr dafür der richtige Altersabstand, denn sie war nur zehn Jahre älter als ich. Als ich nach dem Tod meiner Eltern zu ihr kam, arbeitete sie als Sekretärin bei einer Werbeagentur. Es herrschten die wilden siebziger Jahre, und Jutta war nicht gerade ein Kind von Traurigkeit. In ihrer Wohnung gab es jedes Wochenende wilde Partys. Für mich erste Erfahrungen mit Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll. Als ich später zum Studium nach Köln ging, heiratete Jutta den ebenso reichen wie alten Verwaltungsbeamten Doktor Heinz Bayersdorf, der nur wenige Wochen nach der Hochzeit ins Gras biss.
    Seitdem waren zwanzig Jahre vergangen - Jahre, die Jutta als fröhlich-stinkreiche Witwe verlebt hatte. Manchmal spielte sie bei meinen Fällen die Assistentin, und dabei hatten wir schon einige brenzlige Situationen gemeistert. Die »Mein-Lieber-Junge-Nummer« passte nicht dazu.
    Ich drückte den Klingelknopf und erwartete das gewohnte dunkle Ding-Dong. Stattdessen hob eine etwas quäkende Melodie an, die kein Ende nehmen wollte.
    Jutta öffnete die Tür, und die eigenartige Melodie brach ab.
    »Da bist du ja schon«, begrüßte sie mich.
    »Die Zeiten, in denen ich zu Fuß hier raufmusste, sind vorbei. Du weißt doch, dass ich jetzt den Golf habe.«
    »Ja, ja, schon gut - komm rein.«
    Ich folgte ihr in die hinteren Gefilde der riesigen Wohnung.
    Mir wurde plötzlich klar, dass wir uns lange nicht mehr gesehen hatten. Jutta hatte zum ersten Mal seit Jahren keine gefärbten Haare, sondern trug ihr natürliches Aschblond. Auch ihre Kleidung war ungewohnt. Jeans und grellen Neon-Fummel hatte sie gegen ein beigefarbenes Kostüm getauscht -Marke Sparkassenangestellte. An ihrem Handgelenk glänzte ein dicker goldfarbener Reifen, den ich noch nie an ihr gesehen hatte.
    Bevor sie die Wohnzimmertür erreichte, drehte sie sich um. Ihr Gesicht sah blass aus; ich erkannte Fältchen neben ihren Mundwinkeln. Jahrelang war Jutta als meine Schwester durchgegangen. Jetzt hätte man sie ohne weiteres auch für Mitte fünfzig halten können, obwohl sie noch nicht mal neunundvierzig war. Was mir gar nicht gefiel, war der mürrische, unzufriedene Gesichtsausdruck.
    »Wie siehst du eigentlich aus?«, fragte sie mich.
    Das musst du gerade sagen, hätte ich am liebsten geantwortet. Stattdessen fragte ich: »Wieso?«
    Ich drehte mich zu dem Spiegel, der eine Wand der Diele einnahm, und sah das gewohnte Bild: schwarze Jeans, blaues Hemd, dunkles Sakko. Musste man hier neuerdings einen Smoking tragen?
    »Die Jacke ist ziemlich ausgebeult«, sagte Jutta und zupfte an meinen Ärmeln herum.
    »Das hat dich doch noch nie gestört«, sagte ich. »Was hast du nur? Und was ist das für eine komische Klingel?«
    »Na, ist ja auch egal«, sagte Jutta wie zu sich selbst; dann fiel ihr offenbar ein, dass ich noch etwas gefragt hatte. »Mozart«, sagte sie. »Eine Melodie aus ›Don Giovanni‹. Ein bisschen Stil kann nicht schaden.« Damit öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer.
    Überall, wo Platz war, standen Kerzen - auf dem Kaminsims, der kilometerlangen Fensterbank, auf den Beistelltischen. Sie spiegelten sich in der jetzt nachtschwarzen Fensterscheibe, durch die man tagsüber einen weiten Blick über Wuppertal genießen konnte, und in dem glänzenden Marmorboden, der nur hin und wieder von Teppichinseln unterbrochen wurde.
    Eine Frau erhob sich von Juttas weißem Sofa, strich sich den Rock glatt und kam auf mich zu. Schulterlange, schwarze Haare rahmten ein ovales Gesicht ein, in dem etwas glänzte. Es war silberner Lidschatten. Zuletzt hatte ich so was zu Karneval gesehen. Unterhalb des Kinns wirkte die Frau fast wie eine Kopie von Jutta - beiges Kostüm, ein bisschen Schmuck. Es stellte sich die Frage, wer hier wen kopierte.
    »Baronin Agnes von Rosen-Winkler«, stellte Jutta vor und betonte den Adelstitel deutlich.
    Dann wies sie auf mich. »Mein Neffe - Remigius Rott.«
    Frau von Rosen-Winkler hielt mir die Hand hin. Mir war nicht klar, ob sie einen Handkuss erwartete. Ich entschied mich dagegen
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