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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar
Autoren: Sam Eastland
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gehörenden Eliteeinheit zu dienen.
    Als Anton den Zug bestieg, weinte sein Vater vor Stolz und trocknete sich mit seinem schwarzen Taschentuch die Augen. Seine Mutter war wie betäubt und schien kaum zu begreifen, dass ihr Kind weggeschickt wurde.
    Anton beugte sich aus dem Fenster des Eisenbahnwaggons, er hatte die Haare ordentlich gekämmt, und ihm war deutlich anzusehen, wie sehr er hin- und hergerissen war zwischen seinem Wunsch, zu bleiben, und dem Wissen, dass er fortmusste.
    Der damals erst sechzehnjährige Pekkala, der mit seinen Eltern auf dem Bahnsteig stand, spürte da bereits die Abwesenheit seines Bruders, als wäre er schon lange fort.
    Als der Zug außer Sichtweite war, legte Pekkalas Vater den Arm um seine Frau und seinen Sohn. »Das ist ein großer Tag«, sagte er mit tränengeröteten Augen. »Ein großer Tag für unsere Familie.«
    In der Folgezeit vergaß sein Vater bei seinen Gängen durch die Stadt nie zu erwähnen, dass Anton bald zum Finnischen Garderegiment gehören würde.
    Pekkala als der jüngere Sohn hatte immer gewusst, dass er zu Hause bleiben und als Lehrling seinem Vater dienen würde. Und irgendwann würde er das Familiengewerbe übernehmen. Pekkala eignete sich die ruhige Zurückhaltung seines Vaters an, während er ihn bei dessen Arbeit unterstützte, und alles ging Pekkala ganz selbstverständlich von der Hand – das Ableiten der Flüssigkeiten, ihre Ersetzung durch Konservierungsmittel, das Ankleiden, das Herrichten der Haare, das Einsetzen von Nadeln und das Modellieren des Gesichts, damit der Leichnam friedlich und entspannt aussah.
    Auf diesen friedlichen Gesichtsausdruck legte sein Vater größten Wert. Eine Aura der Ruhe müsse den Toten umgeben, so, als heiße er den nächsten Abschnitt seines Daseins willkommen. Ein schlecht präparierter Leichnam könne sorgengeplagt oder verängstigt aussehen oder, schlimmer noch, gar nicht mehr der Person gleichen, die er einst gewesen war.
    Pekkala faszinierte es, dass er an den Händen und Gesichtern der Toten ablesen konnte, wie sie ihr Leben verbracht hatten. Wie Kleidungsstücke verrieten ihre Körper, ob die Betreffenden pfleglich mit ihnen umgegangen waren oder sie vernachlässigt hatten. An der Hand eines Lehrers spürte er den Höcker am Mittelfinger, wo der Füllfederhalter aufgelegen hatte. Die Hände eines Fischers waren überzogen mit Schwielen und vernarbten Schnittwunden, die die Haut wie ein zerknülltes Blatt Papier aussehen ließen. Falten um Augen und Mund wiesen darauf hin, ob es sich eher um einen optimistischen oder pessimistischen Menschen gehandelt hatte. Die Toten hatten für Pekkala nichts Erschreckendes an sich, sie waren nur ein Rätsel, das es zu lösen galt.
    Die Arbeit eines Leichenbestatters konnte man nicht unbedingt als angenehm bezeichnen, es war keine Arbeit, von der man sagen konnte, dass man sie liebte. Aber ihm gefiel, wie bedeutsam sie war. Nicht jeder war für sie geschaffen, und dennoch musste sie getan werden. Sie war notwendig, nicht nur für die Toten, sondern auch für die Hinterbliebenen und deren Erinnerung.
    Seine Mutter war anderer Meinung. Nie ließ sie sich im Keller blicken, wo die Toten hergerichtet wurden. Sie blieb immer auf halber Höhe der Treppe stehen, wenn sie eine Nachricht überbrachte oder sie zum Essen rief. Pekkala gewöhnte sich an den Anblick ihrer Beine auf den Stufen, die weiche Rundung ihrer Knie, während ihr übriger Körper außer Sichtweite blieb. Er prägte sich den Klang ihrer Stimme ein, die gedämpften Laute, die sie in das mit Lavendelöl getränkte Tuch sprach, das sie sich immer vors Gesicht hielt, wenn sie den Keller betrat. Sie schien sich vor dem Formaldehyd zu fürchten; als würde es in ihre Lungen sickern und sie ihrer Seele berauben.
    Seine Mutter glaubte an solche Dinge. Ihre Kindheit in der Tundra hatte sie gelehrt, Nichtigkeiten wie dem aufsteigenden Rauch eines Feuers eine Bedeutung beizumessen.
    Pekkala würde nie vergessen, wie sie die Tarnung eines Moorschneehuhns beschrieb, das sich zwischen flechtenbewachsenen Felsen versteckte, oder die geschwärzten Steine eines Feuers, dessen Asche schon tausend Jahre zuvor verglüht war, oder die kaum wahrnehmbare Senke im Boden, die erst erkennbar wurde, wenn die abendlichen Schatten darauf fielen, und die den Ort eines Grabes markierte.
    Von seiner Mutter lernte Pekkala, auf die unscheinbarsten Kleinigkeiten zu achten – sogar auf jene, die er selbst nicht sehen konnte und die er nur unbewusst
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