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Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar
Autoren: Sam Eastland
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geschultert.
    Auf den Feldern wuchsen Weizen und Gerste, aber sie waren zu spät ausgesät worden. Die Pflanzen, die um diese Jahreszeit eigentlich kniehoch stehen sollten, gingen einem kaum über den Knöchel.
    Der Wagen hielt vor einer kleinen Polizeidienststelle. Es war das einzige aus Stein errichtete Gebäude, hatte schmale, vergitterte Fensteröffnungen und eine schwere, mit Eisenstangen verstärkte Holztür.
    Kirow stellte den Motor ab. »Wir sind da«, sagte er.
    Pekkala stieg aus. Einige Leute betrachteten ihn und sahen schnell wieder weg, als könnten allein durch seinen Anblick seine Verbrechen auf sie übergehen.
    Er näherte sich den drei Holzstufen zum Eingang und musste zur Seite springen, als ein Mann in schwarzer Uniform und mit dem Abzeichen der Geheimpolizei aus der Dienststelle gestürmt kam und einen alten Mann am Kragen mit sich schleifte. Um die Füße des Alten waren
Lapti
gewickelt, Sandalen aus Birkenrinde. Der Polizist stieß den Alten die Treppe hinunter, so dass dieser der Länge nach im Staub landete. Aus seiner geballten Faust sprangen eine Handvoll Maiskörner. Der Alte hob sie auf, und erst jetzt bemerkte Pekkala, dass es sich um ausgeschlagene Zähne handelte.
    Mühsam kam der Alte auf die Beine und starrte, sprachlos vor Zorn und Angst, den Polizeibeamten an.
    Kirow legte Pekkala die Hand auf den Rücken und schob ihn sacht in Richtung Treppe.
    »Noch einer?«, kam es dröhnend vom Polizeibeamten. Seine Finger gruben sich tief in Pekkalas Bizeps. »Wo habt ihr den denn aufgegabelt?«

Ein halbes Jahr nach der Abreise von Pekkalas Bruder traf ein Telegramm aus Petrograd ein. Es war an Pekkalas Vater adressiert und vom befehlshabenden Offizier der Finnischen Kaserne unterzeichnet. Das Telegramm lautete: Pekkala, Anton aus Kadettenkader relegiert.
    Pekkalas Vater las den dünnen gelben Zettel. In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Regung. Dann reichte er die Notiz an seine Frau weiter.
    »Aber was heißt das?«, fragte sie. »Relegiert? Ich habe das Wort noch nie gehört.« Das Telegramm zitterte in ihrer Hand.
    »Es heißt, dass sie ihn aus dem Regiment geworfen haben«, sagte sein Vater. »Er wird jetzt nach Hause kommen.«
    Am Tag darauf spannte Pekkala eines der familieneigenen Pferde vor das zweisitzige Karriol, fuhr zum Bahnhof und wartete auf den Zug.
    Das tat er auch am Tag darauf und am übernächsten Tag. Eine ganze Woche fuhr Pekkala zum Bahnhof, ließ den Blick über die ausgestiegenen Fahrgäste schweifen und fand sich schließlich allein auf dem Bahnsteig wieder, nachdem der Zug weitergefahren war.
    In seinem Vater ging in diesen Tagen des Wartens eine anhaltende Veränderung vor sich. Er war wie eine Uhr, deren Laufwerk plötzlich kaputtgegangen war. Nach außen hin hatte sich kaum etwas verändert, innerlich aber war er zerbrochen. Es spielte keine Rolle, warum Anton zurückkehrte. Es zählte einzig und allein die Tatsache, dass er zurückkehrte, wodurch der so sorgfältig ausgearbeitete Plan, den der Vater für die Familie entworfen hatte, hinfällig geworden war.
    Nach zwei Wochen ohne jedes Lebenszeichen von Anton fuhr Pekkala nicht mehr zum Bahnhof, um dort auf seinen Bruder zu warten.
    Nach einem Monat war klar, dass Anton nicht zurückkehren würde.
    Pekkalas Vater telegrafierte an die Finnische Kaserne und fragte nach seinem Sohn.
    Man antwortete, diesmal in Briefform, dass Anton an dem und dem Tag zum Kasernentor geführt worden sei, man habe ihm eine Zugfahrkarte für die Heimfahrt und Geld für Verpflegung gegeben, seitdem habe man ihn nicht mehr gesehen.
    Auf ein weiteres Telegramm, diesmal, um sich nach dem Grund für Antons Entlassung zu erkundigen, wurde nicht mehr geantwortet.
    Pekkalas Vater hatte sich mittlerweile so sehr in sich zurückgezogen, dass er kaum noch wiederzuerkennen war. Seine Mutter beharrte weiter darauf, dass Anton schon zurückkehren werde, wenn er dazu bereit sei. Diese Überzeugung, an die sie sich geradezu verzweifelt klammerte, wurde für sie im Lauf der Zeit zu einer großen Belastung, die sie vorzeitig verschliss und auszehrte.
    Eines Tages, nachdem Anton fast drei Monate fort war, legten Pekkala und sein Vater letzte Hand an einen für die Aufbahrung hergerichteten Leichnam. Sein Vater war über den Toten gebeugt und strich mit den Fingerspitzen die Wimpern zurecht. Plötzlich atmete er scharf ein und richtete sich abrupt auf. »Du fährst«, sagte er.
    »Wohin?«, fragte Pekkala.
    »Nach Petrograd. Zum Finnischen Regiment.
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