Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roter Zar

Roter Zar

Titel: Roter Zar
Autoren: Sam Eastland
Vom Netzwerk:
einzige Tätigkeit in Borodok, die noch gefürchteter war als die Todesstrafe.
    Der Gefangene 4745 -P, im neunten Jahr seiner dreißigjährigen Strafe, zu der er wegen Verbrechen gegen den Staat verurteilt worden war, hatte länger durchgehalten als jeder andere Baummarkierer im Gulag. Gleich nach seiner Ankunft in Borodok hatte der Lagerleiter ihn in die Wälder geschickt, aus Furcht, die anderen Insassen könnten seine wahre Identität herausfinden. Jeder ging davon aus, dass er nach einem Jahr tot sein würde.
    Dreimal im Jahr wurden ihm am Ende eines Waldwegs Nahrungsmittel und andere Güter abgestellt. Petroleum, Dosenfleisch, Nägel. Um alles andere musste er sich selbst kümmern. Nur selten wurde er von den Holzfällern in den Wäldern gesichtet. Was sie erhaschten, war ein Wesen, das mit einem Menschen kaum mehr etwas gemein hatte. In seiner mit roter Farbe verkrusteten Gefängniskleidung, mit seinen langen Zottelhaaren glich er eher einem wilden Tier, dem das Fell abgezogen worden war und das man zum Sterben hatte liegen lassen – und das es trotzdem irgendwie geschafft hatte, zu überleben. Wilde Gerüchte umgaben ihn: Er esse Menschenfleisch, er trage einen Brustpanzer aus den Knochen derer, die in den Wäldern verschwunden waren, er habe eine Mütze aus zusammengenähten Skalps.
    Sie nannten ihn den Mann mit den blutigen Händen. Keiner außer dem Kommandanten von Borodok wusste, woher dieser Gefangene gekommen oder wer er früher gewesen war.
    Die gleichen Männer, die eine Heidenangst davor hatten, ihm über den Weg zu laufen, hatten nicht die geringste Ahnung, dass er Pekkala war – dessen Namen sie einst angerufen hatten wie ihre Vorfahren die Götter.
    Er watete durch den Bach, stieg aus dem kalten, hüfthohen Wasser und verschwand zwischen den weißen Birken auf der anderen Uferseite.
    Zwischen den Bäumen verborgen lag eine halb in den Boden gegrabene Erdhütte, eine
Semljanka.
Pekkala hatte sie eigenhändig errichtet. Dort drinnen überstand er die sibirischen Winter, an denen das Schlimmste nicht die Kälte war, sondern die Stille – eine Stille, so vollkommen, dass sie einen ganz eigenen, zischenden, rauschenden Klang zu haben schien.
    Pekkala näherte sich der Hütte, blieb stehen und schnupperte angespannt. Er stand nun völlig reglos, wie ein Reiher im Wasser, während seine nackten Füße im moosigen Untergrund einsanken.
    Er hielt den Atem an.
    Auf dem Baumstumpf am Rand der Lichtung saß mit dem Rücken zu ihm ein Mann. Er trug eine olivbraune Uniform mit kniehohen schwarzen Stiefeln. Er war kein gewöhnlicher Soldat. Seine Uniform glänzte seidig wie Gabardine, sie war nicht aus dem kratzigen Stoff, den die Männer von der örtlichen Kaserne trugen, die bei ihren Patrouillen manchmal bis zum Ende des Weges kamen, aber niemals so tief im Wald auftauchten.
    Er schien sich weder verirrt zu haben, noch schien er bewaffnet zu sein. Zumindest konnte Pekkala keine Waffe erkennen. Er hatte lediglich eine Aktentasche mitgebracht. Sie war von guter Qualität, mit glänzenden Messingschnallen, die hier im Wald völlig fehl am Platz wirkten. Der junge Mann schien zu warten.
    In den folgenden Stunden, während die Sonne über die Baumwipfel stieg und der Geruch des Kiefernharzes die Luft erfüllte, betrachtete Pekkala den Fremden, prägte sich ein, wie er den Kopf neigte, wie er die Beine übereinanderschlug und wieder löste, wie er sich räusperte, um den Blütenstaub im Rachen loszuwerden. Einmal erhob er sich, ging auf der Lichtung umher und schlug hektisch nach den Mücken. Als er sich umdrehte, sah Pekkala die rosigen Wangen eines jungen Mannes, der kaum älter als zwanzig sein konnte. Er war von schmächtiger Statur, mit dünnen Beinen und zarten Händen.
    Unwillkürlich musste Pekkala sie mit seinen eigenen schwieligen Händen vergleichen, seinen schorfigen, aufgerissenen Knöcheln und muskulösen Beinen.
    Pekkala bemerkte den roten Stern, der jeweils auf dem Unterarm seiner
Gymnastiorka,
des Waffenrocks, aufgenäht war. Der Fremde hatte also den Rang eines Kommissars inne; er war Politoffizier der Roten Armee.
    Den ganzen Tag wartete der Kommissar auf der Lichtung, gequält von Insekten, bis das letzte Tageslicht verschwunden war. In der Dämmerung zog er eine langstielige Pfeife heraus und stopfte sie mit Tabak aus einem Beutel, den er um den Hals trug. Er entzündete sie mit einem Messingfeuerzeug, paffte zufrieden vor sich hin und hielt damit die Mücken auf Abstand.
    Langsam atmete
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher